Die Predigt im Wortlaut:
„Empörungsgesellschaft“ – so die plakative Überschrift in einer großen Wochenzeitschrift.
Viele haben sich längst daran gewöhnt, dass ein Thema nach dem anderen – unterlegt mit irgendwelchen Umfragen – durch die Gesellschaft getrieben und dafür gesorgt wird, dass das Gros der Bevölkerung ständig neue Aufreger findet. Nur einige Beispiele:
- Die derzeitigen Regierungsentscheidungen zum Thema Heizung,
- die Diskussion um den Umgang mit Menschen auf der Flucht,
- der politische Umgang mit der Ukraine, mit Russland, China, USA, der Türkei,
- die Blockade-Aktionen der „Letzten Generation“, die Aufzüge der „Querdenker“,
- die Streikankündigungen bei der Deutschen Bahn
- usw.
„Empörungsgesellschaft“ – auf allen Ebenen:
- wenn es z.B. um die Planung einer Autobahn- oder Eisenbahntrasse,
- um ein neues Industrie- oder Gewerbegebiet geht.
- Selbst der möglichen Bau eines Kindergartens oder einer Einrichtung für Senioren
- wie ein geplanter Spielplatz in einem Wohngebiet sorgen für Protest.
„Empörungsgesellschaft“ – in allen Lebensbereichen
- wie sich z.B. in der Diskussion um das Verbot des Schlagers „Lalya“ gezeigt hat,
- oder die Debatte um „Winnetou“, wie die vielen Rassismus-Diskussionen überhaupt,
- ebenso wenn der Verdacht einer „Extrawurst“ für Politiker gehegt wird.
Immer und überall und zu jeder Zeit gibt es Empörung, ob die Bahn Verspätung hat, oder ich zwei Minuten angehalten werde, weil ein Baustellenfahrzeug vor mir rangiert usw. Die Empörung verbreitet sich über die sozialen Medien meist rasend schnell.
Um es klar zu sagen: Ich will keineswegs Unkorrektheit, Misshandlung oder Missbrauch bagatellisieren oder in Abrede stellen, aber kaum taucht im Netz der Verdacht auf, dass z.B. ein Kind im Kindergarten oder in der Schule unsanft angepackt worden sei, bricht eine Lawine der Empörung los, ohne dass zunächst dem Vorwurf auf den Grund gegangen wurde.
Im BR-Fernsehen wurde jetzt zum wiederholten Mal das – unbestritten – schlimme Thema des sexuellen Missbrauchs im Raum der Kirche aufgegriffen und in einer sogenannten Doku verarbeitet. Beide Sendungen dazu in den vergangenen zwei Wochen gipfelten darin, die katholische Kirche als „Verbrecherorganisation“ zu bezeichnen.
Nun lehrt uns alle die Erfahrung, dass es im Leben immer und überall Defizite, Probleme und Unzulänglichkeiten und leider auch Unmenschlichkeiten gibt. Schlimme Dinge sollen und müssen aufgegriffen geklärt werden. Aber dazu braucht es eben auch eine menschliche Basis, die den oder die Kritisierten nicht sofort an den öffentlichen Pranger stellt, sondern zunächst das mögliche Geschehen zu klären versucht.
Aber wenn das Interesse an Sensationen, an Schlagzeilen, an Auflagenzahlen und Einschaltquoten überwiegt, dann ist keine Zeit für eine korrekte Recherche. Damit aber wird Misstrauen geschürt und Existenzen, menschliche wie berufliche, zerstört. Sollte sich herausstellen, dass es anders war – dann ist das meist keine Meldung mehr wert.
Um das Zusammenleben in der Gesellschaft menschlicher zu gestalten, braucht es Empathie. Nur so kann die Sorge und Not der Betroffenen wahrgenommen werden, nur so kann es gelingen, schlimmen Vorkommnissen auf den Grund zu gehen, sie auszuräumen und auf Zukunft hin zu verhindern. Damit wird auf lange Sicht das Miteinander reibungsärmer und besser gestalten.
In der Lesung aus der Apostelgeschichte wurde heute aus der jungen Gemeinde der Gläubigen in Jerusalem berichtet. Das nachlässige soziale Verhalten in der täglichen Versorgung der Witwen führte zum Konflikt. Um die dahinterstehende Spannung zwischen Hellenisten und Hebräern zu entschärfen und den sozialen Dienst sicherzustellen, wurden „sieben Männer von guten Ruf und voll Geist und Weisheit“ ausgewählt. Dies führte zu einem aufmerksameren Miteinander, zur Akzeptanz in der Gesellschaft und auch zum Wachsen der Gemeinde.
In der Gemeinde, an die der Evangelist seine Botschaft richtet, gab es aber offensichtlich Verwirrungen und Spannungen. Einige kamen über die Nachfolge Jesu in Zweifel. Andere wurden unsicher, welchen Weg sie im Leben gehen, wie sie sich entscheiden und verhalten sollten. Deswegen erinnerte der Johannes-Evangelist seine Gemeinde an das Wort Jesu: „Euer Herz lasse sich nicht verwirren.“ Damit macht der Evangelist deutlich, worauf es gerade dann entscheidend ankommt, wenn wir zutiefst verunsichert sind.
Er zitiert Jesus: „Glaubt an Gott und glaubt an mich!“ Damit gibt er seiner Gemeinde die entscheidend wichtige Empfehlung: Es kommt gerade in Zeiten der Verunsicherung darauf an, am Glauben festzuhalten und an dem Weg, den Jesus aufgezeigt hat, den er selbst für uns gegangenen ist. In all dem Auf und Ab unseres Leben, in allen möglichen Enttäuschungen unserer irdischen Existenz kommt es darauf an, ihm zu folgen. Er lädt uns immer wieder ein: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“
Im Wissen um die Unvollkommenheit der Menschen, sagt Jesu trotzdem denen, die ihm folgen, zu: „Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen.“ Offensichtlich haben sich viele der Botschaft Jesu angeschlossen. Die Lesung aus der Apostelgeschichte deutet es an: „Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde immer größer:“
Der Franziskaner Udo Schmälzle, Professor für Pastoraltheologie, sagte einmal: „Die Geschichte des Christentums zeigt, wie eine Katakombenkirche eine gesellschaftlich prägende Kraft entfaltete. Das Christentum hat Glaubwürdigkeit bewiesen, weil in den christlichen Gemeinden niemand verhungert ist, Alte, Kranke und Behinderte versorgt und nicht abgeschoben wurden und weil keine Kinder mehr getötet wurden.“
Die Christen sind einen anderen als den damals gängigen Weg gegangen. Sie sind einen besseren, einen vorbildlichen Weg gegangen, sie haben sich in den vielen kleinen Fragen des Alltags und in den großen Fragen des Lebens an den Weg Jesu gehalten und haben so selbst zu einem Leben in Fülle gefunden und haben Zeichen für das Leben gesetzt. Ihr Dasein war in Gott verwurzelt. „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“, sagt Jesus
Der Schweizer Kurienkardinal Kurt Koch hat in einer Veranstaltung, an der ich teilnehmen konnte, zur Gottesfrage u.a. gesagt: „Humanität, die nicht in Divinität – also in Gott – begründet ist, wird in Bestialität enden.“ Genau das belegt die Geschichte der Menschen.
Immer wieder, wenn ich Stellungnahmen und Reden höre, in denen andere mit markigen Worten niedergemacht werden, frage ich mich, ob das nicht auch ein Hinweis auf die Gottvergessenheit unserer Generation ist. Ich möchte am liebsten umschalten, wenn sich – wie dieser Tage im Fernsehen – eine Kabarettistin unter dem Beifall der Zuschauer im Studio in erniedrigender und verletzender Weise z.B. über Politiker auslässt, die ihr persönlich zuwider sind.
Als ärgerlich empfinde ich, wenn Politiker in den aktuellen Chor des undifferenzierten Kirchen-Bashings einstimmen, und so im Mainstream mitschwimmen. Ebenso vertiefen einzelne der Spitzenleute in kirchlichen Gremien mit ihrer festgelegten Haltung die Spannungen, für die sie andere verantwortlich machen. Ihre eigene – scheinbar unfehlbare – Haltung bekräftigen sie mit der Darstellung, wie „wütend“ sie seien.
Es liegt in unserem Wesen, dass wir uns schnell über Dinge aufregen. Wut ist eine unserer Grundemotionen und sie ist notwendig im Einsatz gegen Unrecht und Ungerechtigkeit. Aber es braucht immer wieder das Bemühen um Verständigung. Das oft vorherrschende Empörungsgebaren scheint mir eher Ausdruck der Gottvergessenheit, weil es Vertrauen zerstört und faires Miteinander untergräbt.
Im Blick auf Jesus, seine Botschaft und seinen Umgang mit Menschen, selbst mit Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, findet sich immer wieder ein Weg zu einem versöhnten Miteinander. Die Einladung Jesu, ihm zu folgen, gilt allen Menschen, auch denen die Schuld auf sich geladen haben. Im Blick auf Jesus erkennen wir, wie Gott ist, der Gott und Vater aller. Und auch jetzt rechnet Jesus mit Unsicherheit und Zweifel im Blick auf seine Person: „Glaubt mir doch, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist; wenn nicht, dann glaubt aufgrund eben der Werke!“
Die Lebenspraxis ist also auch Ausdruck des Glaubens. „Der Weg ist das Ziel!“, sagt das Sprichwort. Das bedeutet: Die Art und Weise, wie ich meinen Weg gehe, macht deutlich, worauf zu ich gehe.
Während die Empörungsgesellschaft mit den medial verbreiteten Themen beschäftigt ist, bahnen sich Entwicklungen an, über die zu diskutieren und zu streiten wichtig wäre. Viele Konfliktherde und kriegerische Auseinandersetzungen in allen Kontinenten nehmen wir gar nicht mehr wahr. Die schlimmen Auswirkungen der sozialen Schieflagen zwischen den Ländern der Erde und ihre Folgen können wir uns nicht vorstellen.
Oder achten wir nur einmal ganz bewusst auf das, was sich bei uns verändert, während wir den medial befeuerten Empörungen nachgehen: Merken wir, wie auf die völlige Freigabe des § 218, also der Abtreibung, hingearbeitet, wie die Selbstbestimmung des eigenen Geschlechts vorangetrieben wird? Die nachteiligen Auswirkungen z.B. eines freien Cannabis-Konsums werden nicht fundiert diskutiert. Der Familienbegriff mitsamt den vielfältigen Formen von Elternschaft wird neu definiert. Erziehung in Verbindung mit Bildung wird mehr und mehr auf staatlich organisierte Institutionen übertragen. Die Bedeutung von Religion für das friedvolle Zusammenleben wird relativiert, Glaube nicht mehr als Orientierung im Miteinander der Gesellschaft respektiert, allenfalls als individueller Vollzug im privaten Bereich verortet. Feiertage werden umgedeutet, Sterbehilfe wird neu geregelt usw.
Das widersprüchliche Verhalten zeigt sich z.B. daran, dass das Gros der Bevölkerung den Natur- und Klimaschutz als ganz wichtig und unverzichtbar ansieht und deshalb immer mehr die Bedeutung der Verkehrswende als notwendig erachten. Trotzdem steigt die Zahl der neu zugelassenen Fahrzeuge. Gleichzeitig wächst der ADAC. Er hat mit seinen inzwischen 21,4 Millionen Mitgliedern schon die katholische Kirche überholt, aus der unaufhörlich Menschen austreten.
„Empörungsgesellschaft“ – das pflegen wir mit großer Leidenschaft. Wo bleibt die Empörung bei so vielen weiteren wichtigen grundsätzlichen Themen unseres Lebens?
Wo bleibt die Freude am Glauben, wo das Bedürfnis, andere Menschen mit unserem Glauben in Berührung zu bringen und ihnen damit den Weg zu einem gelingenden Leben aufzuzeigen?
Wir leben in einer Zeit, in der es immer mehr verunsicherte Menschen gibt. Die Orientierungslosigkeit geht oft mit psychischen Belastungen einher. Ratlosigkeit, Aussichtslosigkeit machen sich breit. Viele Heranwachsende sind früher oder später überfordert. Und gerade jetzt braucht es das glaubwürdige Zeugnis für den, der „Weg, Wahrheit und Leben“ ist und uns Leben in Fülle verheißt. Doch das notwendige Zeugnis kommt nicht zum Tragen. Ein Grund liegt darin, dass viele, die – unterstützt durch die Medien – das Erscheinungsbild von Kirche prägen, dabei sind, sich zu empören.
Dagegen heißt es heute in der zweiten Lesung aus dem ersten Petrusbrief: Ihr seid „sein besonderes Eigentum, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.“ So kommt Licht in die Welt und auch in das Dunkel des Lebens. So werden das Leben und das Zusammenleben menschlich und hoffnungsvoll. So wird mehr bewirkt als durch die täglich neuen Empörungen!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Herr,
ich möchte glauben,
dass ich meinen Weg finde,
wenn ich deinen Weg gehe.
Ich möchte glauben,
dass ich die Wahrheit erkenne,
wenn ich deine Wahrheit annehme.
Ich möchte glauben,
dass ich wirklich lebe,
wenn ich mein Leben
nach deinem ausrichte.
Herr,
schenke mir Glauben.
(Autor unbekannt)