Den besten Einblick und die spannendsten Hintergründe bekommt man wo? Genau: beim Frisör. Und am Schottenanger, ganz in der Nähe von Caritas-Don Bosco Berufsbildungswerk und Berufsschule gibt es einen Ausbildungssalon. Ich gehe hin. Haare waschen und ein wenig schneiden, das geht immer. Und ich habe Glück. Wo man normalerweise einen Termin braucht, nimmt sich die Chefin an diesem herrlichen Tag im Februar höchst persönlich Zeit für mich. Das ist nicht geplant, sondern Zufall. Azubis aus dem zweiten Lehrjahr sind bereits beschäftigt. Auch dieses, eines von vielen Angeboten am Tag der offenen Tür, wird gut angenommen. Junge Leute lassen sich verschönern, probieren neue Frisuren aus. Meine Haare geben da nicht viel her, aber das Gespräch lohnt sich. Echtes Interesse an den jungen Leuten ist zu spüren, Empathie und die Bereitschaft, jedem immer wieder eine Chance zu geben. Wer am Schottenanger eine Ausbildung macht oder die Berufsschule besucht, bringt seine eigene Geschichte mit. Und die ist meistens kompliziert. Oft ist die Rede von Jugendlichen mit erhöhtem Förderbedarf, aber das klingt sehr bürokratisch. „Es sind junge Frauen und Männer mit besonderen Herausforderungen, die wir ausbilden und auf den Weg ins Berufsleben begleiten“, sagt die Chefin. Sie habe Spaß daran und wolle immer wieder ermuntern und ermutigen.
Irgendwie schwebt der Geist des großen Patrons über allem. Priester und Ordensgründer Giovanni Bosco (1815 - 1888) schaut von Bannern, Fahnen und aus verglasten Bilderrahmen. Er ist nicht nur bei den Frisören, sondern genauso bei den Fachwerkern für Metall, Holz und Elektro, bei den angehenden Lageristen und Gebäudereinigern. Er ist spürbar im Landschafts- und Gartenbau, bei den Malern und im Karosseriebereich und nicht zuletzt in der Kita Margherita. Leichtes Spiel haben an diesem Tag die jungen Leute aus dem „weißen Bereich“. Heißt das wirklich so? Sie bereiten Köstlichkeiten, die bei den zahlreichen Gästen sehr gut ankommen. Ist doch logisch: Gutes Essen ist schon die halbe Miete bei einem solchen Großereignis.
Alle Fachbereiche und Räume stehen an diesem Tag offen. „Wir öffnen Türen“, sagen die Leiter, Andreas Halbig und Dr. Harald Ebert. Das wird an diesem sonnigen Samstag sichtbar, das trifft aber Tag für Tag zu. Wo junge Leute Schwierigkeiten mit dem Lernen und dem Leben haben, ist der Schottenanger genau die richtige Adresse. Auch dort ist das Leben kein Ponyhof, aber die Spezialisten fürs Spezielle, Lehrer, Sozialpädagogen und Psychologen nehmen sich Zeit für jeden. Ein wenig ist es wie beim alten Giovanni Bosco, der sich für die jungen Leute seiner Epoche wirklich interessierte und ihnen Türen in die Zukunft öffnete. Auch damals ging es um Zutrauen und Vertrauen, um die Stärkung des Selbstwertgefühls.
Ich rede mit vielen Leuten an diesem Tag, und bin berührt. Die Chefs und Leiter, die Anleiter, Schulbegleiter, Ausbilder, die vielen Ehemaligen, die Kooperationspartner etc. Sie alle schwärmen von dem, was am Schottenanger geschieht. Natürlich gebe es immer wieder Probleme, die man heute eher Herausforderungen nennt, aber das Klima stimme und der Einsatz für das eine große Ziel eben auch: Benachteiligten Menschen Chancen und Möglichkeiten eröffnen.
Woher diese Kraft kommt, macht schon der Start in den Tag klar. Dicht besetzt sind um 9 Uhr die Reihen in der Kirche am Schottenanger mit jungen Leuten, Ehrengästen und Mitarbeitern. Sie feiern Gottesdienst. „Es braucht keine Mutproben, wie ich sie aus meiner Jugend kenne“, erklärt Domkapitular Clemens Bieber vom Caritasverband, „sondern Ermutigung“. Die gibt der Vorsitzende den zahlreichen jungen Leuten weiter. „Keiner kann alles, und niemand kann nichts“, sagt Bieber und dankt den engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihren Einsatz. Dass heute auch ein wenig an das 100-jährige Bestehen des Caritasverbandes für die Diözese Würzburg gedacht wird, scheint gar nicht so entscheidend. Es braucht den Dach- und Spitzenverband für das Große und Ganze, aber hier am Schottenanger geht es ganz handfest und konkret um die jungen Leute und das Gelingen ihres Lebens. Sie singen mit, bringen sich mit Gebeten und einem Anspiel ein.
Viele Gäste nutzen den Shuttle-Service ins benachbarte Gadheim. Dort sind unter andrem das große Ausbildungshotel, eine Gärtnerei und eine Bäckerei; dort ist nun auch der neue Mittelpunkt der EU. Nein, ich fahre heute nicht hin. Zu schön ist die Atmosphäre, zu wunderbar die vielen Gespräche in den Fachräumen, auf den Fluren und Gängen am Schottenanger. Ich rede mit den Auszubildenden über das richtige Putzen von Fenstern, über Handdesinfektion, über Hauswirtschaft und Waschprogramme. Ich lasse mir zeigen, wie man ein Kabel fachmännisch anschließt und eine Klingel richtig verdrahtet. Und mit den Lehrern rede ich über CNC-Maschinen, Pflanzenarten, Malertechniken und Tabellenkalkulationen. Ich rede mit den Fachleuten vom Autismus Kompetenzzentrum Unterfranken, von der Agentur für Arbeit, die großen Anteil hat am Gelingen dieses Tages, von der IHK, die einen Großteil der Prüfungen abnimmt, und ich rede mit vielen anderen Trägern und Unterstützern. Und irgendwie beschleicht mich am Ende des Tages das Gefühl: Sie alle hegen große Sympathien für die jungen Menschen und die herausragende Arbeit, die unter den allseits gegenwärtigen milden Blicken des Turiners Giovanni Bosco am Schottenanger seit Jahr und Tag geleistet wird und doch jeden Tag neu erfunden werden muss.
Und eines ist auch klar: Ich habe einen neuen Frisörsalon gefunden, auch wenn ich dort wohl nie wieder inkognito werde auftauchen können.
Sebastian Schoknecht