Die Predigt im Wortlaut:
„Gott braucht Dein Herz für die Welt!“ So war der Impulsvortrag des Wiener Pastoraltheologen Professor Paul Zulehner überschrieben, den er am vergangen Freitag beim „Tag der Herzlichkeit“ der Caritas in unserer Diözese hielt. Ein erster Aspekt war die „taumelnde Welt“, die er von den aktuellen, großen Problemlagen unserer Zeit skizzierte. Dabei verwies er z.B. auf die Bedrohung durch den Krieg in der Ukraine, aber auch durch die anderen Spannungen und kriegerischen Konflikte in allen Kontinenten und vielen Ländern. Er nannte die inzwischen 110 Millionen Migranten, die ökologische Krise, aber auch die ökonomischen und die daraus erwachsenden sozialen Schieflagen in der Welt usw.
Vor diesem Hintergrund ist es umso bedauerlicher, dass die Kirche derzeit so stark mit sich selbst beschäftigt ist und ihre Botschaft für ein erfülltes und hoffnungsfrohes Leben in der Gesellschaft nicht wahrgenommen wird. Deshalb hat der weithin bekannte Wiener Theologe auf die Haltung verwiesen, die Menschen kennzeichnen sollte, die an Gott glauben und aus dem Vertrauen in IHN unsere Welt mitzugestalten versuchen.
In einer – wie er es nannte – kardiologischen Meditation hat er im Bild der verschiedenen Funktionen eines Herzens unser Verhalten beschrieben bis hin zu Menschen, die von Angst getrieben – wie das bei Angina Pectoris passiert – Enge spüren und in Panik geraten und nur noch sich selbst wahrnehmen.
Umso drängender stellt sich die Frage: Wer hilft den Menschen in der Welt unserer Tage aus der Abwärtsspirale herauszukommen und Vertrauen und Mut für die Zukunft zu entwickeln?
- Ernstzunehmende Wirtschaftswissenschaftler kommen zur Erkenntnis, dass es keine Sozialtheorie gibt, die umfassend unsere wirtschaftlichen und sozialen Probleme lösen könne.
- Namhafte Naturwissenschaftler äußern sich demütig, dass aufgrund eines naiven Fortschrittsglaubens katastrophale Fehler begangen wurden und es vermessen sei, von den Naturwissenschaften alles Heil zu erwarten.
- Viele Philosophen sind zur Erkenntnis gekommen, dass der Zusammenbruch des theoretischen Marxismus wie zahlreicher anderer Ideologien bei vielen Menschen eine weltanschauliche Leere hinterlassen habe.
Wer also kann glaubwürdig sagen, wo es langgeht? Wer gibt uns – der Welt und den Menschen – eine Richtung vor?
Die Weltprobleme brennen uns auf den Nägeln. In Folge davon möchten sich die einen am liebsten in ihre Privatsphäre zurückziehen und von allem nichts mehr hören. Andere mühen sich ab bis an ihre physischen Grenzen, setzen sich ein für eine lebenswerte und menschenwürdige Gestaltung der Welt. Aber sie sind oft frustriert, weil sich zu wenig bewegt.
Ob wir nun die weite Welt mit ihren globalen Problemen in den Blick nehmen oder die Schwierigkeiten in der überschaubaren persönlichen Umwelt – wer kann helfen, Mut machen, Vertrauen vertiefen und die Weichen für eine lebenswerte Zukunft stellen?
Wenn wir all die Probleme zusammennehmen, die uns in unserer Zeit plagen, dann gibt es wohl kaum ein treffenderes Bild für die derzeitige Weltsituation als das des heutigen Evangeliums. Die Menschheit ist müde und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben, Schafe, die in alle Richtungen laufen, zutiefst verunsichert und verzweifelt nach einem Hirten Ausschau halten, der den Weg vorangeht.
Auch das unmittelbar folgende Bild im Evangelium hat uns viel zu sagen. Da ist von der großen Ernte und den wenigen Arbeitern die Rede. Zu wenige also, die das Korn schneiden, mit dem Schnitter das Korn dreschen, mit der Wurfschaufel die Spreu vom Weizen trennen und schließlich die Ernte in die Scheune bringen.
Jedes Zeitalter ist Gottes Erntetag und Gottes Gerichtstag. In jedem Zeitalter wächst auf dem Acker der Welt der gute Weizen, wachsen Friede, Gerechtigkeit, Wahrheit, Hoffnung, Liebe. Aber es wächst auch das Unkraut: Hass, Lüge, Gewalt, Unrecht, Ausbeutung.
Der bereits erwähnte Wiener Pastoraltheologe Professor Paul Zulehner hat über mehrere Jahre hinweg in einer wissenschaftlich hochqualifizierten Arbeit die sogenannte Europäische Wertestudie durchgeführt und sie unter dem Titel „Wie Europa lebt und glaubt“ veröffentlicht. Sie macht deutlich, dass die meisten Menschen nach Orientierung suchen, aber nicht wissen, wem sie sich anvertrauen können. Und sie überfordern sich häufig selbst. Sie suchen ein Obdach für ihre Seele, wie Zulehner es in einem Buch beschreibt: „Die Stärke der Religion wäre es, dass sie der Sehnsucht nach dem schlechthin sinnvollen Leben, einem Leben im unzerstückelten Glück, also im Schalom, eine verlässliche Ausrichtung geben kann.“
Ausgehend vom heutigen Evangelium bleibt deshalb die Frage: Wo sind jene Arbeiter, die sich um Gottes Ernte, um das Leben, um die Menschen kümmern, die dafür sorgen,
- dass die Wahrheit unter so viel Lügen, „Fake News“, nicht verkommt,
- dass der Friede nicht ganz von der Gewalt gefressen wird,
- dass die Hoffnung nicht an Resignation und Verzweiflung erstickt,
- dass die Liebe nicht am Hass stirbt?
Wer sind die Arbeiter, die solch schwierige und mühevollen Aufgaben übernehmen, damit die Menschen hoffnungsvoll in die Zukunft blicken können, dass der alte Kontinent auch künftig mit Recht das „christliche Abendland“ genannt werden kann, so dass die Menschen bei uns und die Völker in Europa auf einer gemeinsamen geistigen Grundlage zusammenwachsen, in Frieden miteinander leben und auf den Frieden in der Welt hinwirken können?
Antwort erhalten wir, wenn wir die beiden Bilder des Evangeliums miteinander verbinden, das Bild von den Schafen ohne Hirten und das Bild von der Ernte und den Arbeitern: Das Bindeglied ist Jesus Christus.
- Wer sich IHM anvertraut, wer sich SEINER Herde anschließt, wird auf gute Weide geführt.
- Dann verwandelt sich die Weide zum Acker, der bebaut und gepflegt werden muss.
- Dann wird der Berufene zum Arbeiter.
Wenn jeder Berufene, und das ist jede und jeder von uns, wenn wir auf dem Acker des eigenen Lebens dafür sorgen, dass dort guter Weizen wächst, nämlich Liebe, Gerechtigkeit, Güte, Erbarmen, Hilfsbereitschaft, wenn jeder versucht, auf dem Acker seines eigenen Lebens das Unkraut Egoismus, Feigheit, Faulheit, Lüge zu jäten, dann hat jeder schon eine Menge für die Welt getan.
Eine Milliarde Christen müssten doch imstande sein, das Gesicht der Erde zu verändern, wenn sie sich wirklich als Berufene verstehen! Diese Aufgabe anzupacken ist wichtiger, als über die Frage zu spekulieren, ob es mit der Religion, dem Christentum zu Ende geht oder wie wir kirchliche Strukturen gestalten.
Ich bin überzeugt, es braucht die Religion, es braucht das Christentum, es braucht uns Christen, es braucht eine Kirche, die nah an den Menschen und dem Leben ist, damit das Leben der Menschen Sinn und Ziel hat.
Diese Botschaft zu bezeugen, beginnt in der Familie, im unmittelbaren Zusammenleben der Menschen, also auch in einem Haus wie St. Thekla. Hier nehmen sich Menschen umeinander an – ob als Nachbarn im Betreuten Wohnen, ob als Betreuungskräfte in der Tagesstätte oder im Pflegebereich.
Die Kultur des Miteinanders, der Solidarität, der Sorge umeinander ist eine Facette, mit der unter dem Dach der Caritas der Kirche deutlich werden soll, dass auch das Leben im Alter Wertschätzung und würdevollen Umgang verdient. Deshalb steht in St. Thekla der Mensch und seine Bedarfe im Alter im Blick und nicht das Schielen auf möglichen Profit.
Damit setzen wir als Kirche bewusst ein Zeichen für das Leben im Alter, während andernorts aus wirtschaftlichen Gründen mit Profitabsicht Einrichtungen einfach geschlossen werden.
Manche Zeitgenossen nehmen die Botschaft Jesu und uns Christen nicht ernst und machen uns immer wieder sogar lächerlich. Dennoch wage ich zu behaupten, dass Papst Franziskus Recht hat mit seiner Analyse, wie er sie in seinem Schreiben „Evangelii gaudium“ dargelegt hat: „Die große Gefahr der Welt von heute mit ihrem vielfältigen und erdrückenden Konsumangebot ist eine individualistische Traurigkeit, die … hervorgeht aus der krankhaften Suche nach oberflächlichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten Geisteshaltung.“ Umso mehr ermutigt der Papst: „Die evangelisierende Gemeinde stellt sich durch Werke und Gesten in das Alltagsleben der anderen … und nimmt das menschliche Leben an ...“ Dazu passt sein Gedanke in „Lumen fidei“: „Die Hände des Glaubens erheben sich zum Himmel, aber gleichzeitig bauen sie in der Nächstenliebe eine Stadt auf, die auf Beziehungen gründet, deren Fundament die Liebe Gottes ist.“
Wo dies erlebbar ist, erübrigt sich die Frage, ob die Religion, ob auch Kirche am Ende ist. Deshalb kommt es gerade jetzt auf das beherzte Engagement der Christen in Gesellschaft und Welt an! Im Caritashaus in der Franziskanergasse haben wir am vergangenen Freitag, am „Herz-Jesu-Fest“ einen „Tag der Herzlichkeit“ begangen. In einem Haus wie St. Thekla, in den Tag für Tag sehr konkret Menschen Zuneigung und Unterstützung geschenkt wird, ist jeder Tag ein „Tag der Herzlichkeit“! Dafür danke ich allen, die dabei mitwirken!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Alt werden, das heißt:
Ich darf einfach da sein und leben.
Ich brauche nicht zu beweisen,
wieviel ich noch tauge
wieviel ich noch kann,
wie groß meine Kräfte sind.
Ein alter Mensch
hat eine Truhe in sich,
gefüllt mit Erfahrungen.
Nein: mit einer Mischung
aus Erfahrungen und Irrtümern,
aus denen ich gelernt habe
zu leben.
Ich danke Gott für alles, woran mein Leben gereift ist,
und ich bitte ihn, dass ich die Dankbarkeit darüber
glaubhaft der nächsten Generation vorleben kann.
Das Leben ist in allen Gezeiten lebenswert
und dafür danke ich Gott
und all denen, die er mir an die Seite gegeben hat.
(Gedanken eines alten Menschen)