Die Predigt im Wortlaut:
„Stilles Sterben sozialer Einrichtungen“ so lautete die Überschrift eines Artikels, der vor einigen Tagen in der F.A.Z. zu lesen war. „Stilles Sterben sozialer Einrichtungen“ – der Autor liefert eine sehr korrekte Analyse der Situation sozialer Einrichtungen in unserem Land, insbesondere in der Trägerschaft freigemeinnütziger Träger wie der Arbeiterwohlfahrt, der evangelischen Diakonie oder unserer Caritas. Der Artikel ist sehr informativ, stimmt aber auch nachdenklich im Blick auf die soziale Kultur bei uns. Er prophezeit in absehbarer Zeit eine Vielzahl von „Pleiten im Sozialsystem“.
Wörtlich heißt es im Artikel: „Die Krise der freigemeinnützigen Träger nagt … an einem Pfeiler des deutschen Sozialstaats. Das System lebte bisher davon, dass viele Leistungen nicht direkt durch staatliche Träger oder durch profitorientierte Unternehmen erbracht wurden, sondern auch durch die mehr als zwei Millionen Beschäftigten in der freien Wohlfahrtspflege. Deren Träger bringen über ihre vielen Ehrenamtlichen zusätzliche Ressourcen in das Sozialsystem ein und stärken durch ihre weltanschauliche Pluralität auch dessen Vielfalt.“
Der soziale Bereich ist sehr komplex. Es gibt keine einfache Antwort auf die aktuellen Herausforderungen. Genannt werden kann die Demografie in unserem Land – zum einen im Blick auf den immer geringeren Nachwuchs in den zurückliegenden Jahrzehnten, woraus dann auch der Fachkräftemangel resultiert. Zugleich wird unsere Bevölkerung immer älter. Ein weiterer Faktor ist die Kommerzialisierung des sozialen Bereichs. Profitorientierte Sozialunternehmen picken sich die gewinnbringenden Bereiche heraus. Die vielen notwendigen Dienste – etwa in der Armenfürsorge oder der ambulanten Pflege im ländlichen Bereich – bleiben den gemeinnützigen Trägern. Sie müssen dafür zumeist Eigenmittel einbringen. Möglichkeiten, Einnahmen zu erwirtschaften, die dann für wichtige soziale Dienste verwendet werden können, werden immer geringer. Ein weiterer Grund ist die sich abzeichnende Situation, dass viele Dienste auf den sogenannten „sozialen Markt“ gebracht wurden. Durch Konkurrenz erhoffte man sich gesteigerte Qualität. Das war ein Trugschluss, denn der Markt reguliert sich über den billigeren Preis, damit zu Lasten der Qualität und der fairen Vergütung der Pflegekräfte.
Gerade an dem zuletzt genannten Punkt wird der für mich wesentliche Grund für die Veränderungen im sozialen Bereich deutlich: Der soziale Dienst wird in weiten Teilen der Politik, der staatlichen wie auch der kommunalen Verwaltung und zunehmend in der Denkweise eines Großteils der Bevölkerung nicht mehr als Aufgabe der Mitmenschlichkeit, der Solidarität erachtet, sondern als Geschäftsfeld. Im Vordergrund steht oft leider nicht mehr die Frage „Wie kann ich Dir helfen?“, sondern „Was kann ich an Dir verdienen?“.
Damit geht das Bewusstsein für die Bedeutung der sogenannten Subsidiarität und damit das unmittelbare bürgerschaftliche Engagement im Denken der Politik wie der öffentlichen Verwaltung zunehmend verloren. Wirtschaftliche Defizite werden in kommunalen oder staatlichen Einrichtungen durch Steuergelder ausgeglichen, was den gemeinnützigen Trägern verwehrt ist.
Das gängige System kann nicht mehr lange gehalten werden. Es braucht Veränderungen, aber nicht nur strukturelle, sondern zunächst mentale. Die Sorge um sozial Schwache, Bedürftige und auf Unterstützung Angewiesene muss wieder als gesellschaftliche Aufgabe erachtet werden. Dabei muss es dann vor allem darum gehen, Menschen zu befähigen sich selbst helfen zu können und nicht einfach alles von den sozialen Sicherungssystem erwarten zu wollen.
Veränderungen sind erforderlich, um die notwendige Solidarität in der Gesellschaft leisten zu können. Aber es besteht die Gefahr, dass die der Hilfe und Unterstützung Bedürftigen durch das soziale Netz fallen, weil diejenigen, die gut organisiert sind und sich für ihre Anliegen Gehör verschaffen, dafür sorgen, dass bei ihnen nicht allzu viele Abstriche gemacht werden.
Unbestritten gilt es, die vielen sozialen Handlungsfelder genau zu analysieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Ganz sicher sind die Erwartungs- und Forderungsmentalität kritisch zu betrachten. Es ist wichtig, das Bewusstsein der Solidarität zu stärken. Ebenso ist es wichtig, Menschen zu motivieren und zu befähigen, auch Verantwortung für sich selbst wahrzunehmen und so ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Wesentliche Voraussetzung, das Bewusstsein der Solidarität zu stärken, ist zum einen, dass ich den Mitmenschen als meinen Nächsten erachte und seine Not nicht aus der Ferne beurteile. Es braucht die Nähe zu den bedürftigen Mitmenschen. Dazu konnte ich vor wenigen Wochen eine interessante Beobachtung machen. Zum internationalen Tag der Armut haben wir als Caritas in Würzburg zu einem Straßentheater eingeladen. Zwei Schauspieler haben sich in überzeugender Weise die Situation von Menschen, die auf der Straße leben, zu eigen gemacht und beeindruckend dargestellt. Dabei wurde den Zuschauern abverlangt, auf Augenhöhe mit den Obdachlosen zu gehen. Das Theater fand in einem freien, offenen Durchgang statt und diejenigen, die als Zuschauer kamen, mussten auf Pappkarton auf dem gepflasterten Boden Platz nehmen.
Wo aber begegnen wir unmittelbar der Not von Menschen? In einem Bericht über den zunehmenden Bedarf an Lebensmittel-„Tafeln“ war zu lesen: „Armut in Deutschland hat viele Gesichter: Da ist der wegrationalisierte Facharbeiter, da ist die alleinerziehende Mutter, die den Sprung ins Berufsleben nicht mehr schafft; da sind Familien mit Kindern, Migranten, Niedriglöhner, Langzeitarbeitslose, Mini-Jobber und Rentner. ... All die relativ Armen, ob sie arbeiten oder nicht, verbindet das Faktum, dass ihnen das Geld zum Leben nicht reicht. Sie stehen für billige, ansonsten unverkäufliche Lebensmittel an.“
Immer wieder werden wir als kirchliche Wohlfahrtsverbände in Reden und Kommentaren für den Einsatz für soziale Gerechtigkeit gelobt. In einer Ansprache hieß es: Durch Hilfswerke wie Caritas und Diakonie sowie das konkrete Engagement in den Gemeinden haben die Kirchen einen guten Einblick in die tatsächliche Situation der Gesellschaft sowie die Lebensverhältnisse von Alten, Kranken, Arbeitslosen und Alleinerziehenden. „Sie kennen sich aus am Rande der Gesellschaft“. Deshalb seien die Kirchen die Stimme derjenigen, die sonst kein Gehör fänden und keine Lobby hätten. In einer anderen Rede hieß es: „Reichtum ist nichts Verwerfliches, die Frage ist nur, wie die Gesellschaft damit umgeht.“
Damit sind wir beim heutigen Evangelium. Jesus weist seine Jünger auf die Opferbereitschaft der Menschen hin. Er beobachtet Menschen, die Geld haben. Sie bringen ihre Spenden. Ebenso kommt eine arme Witwe. Sie spendet zwei kleine Münzen. Gemessen an ihren Möglichkeiten ist es aber unvorstellbar viel, was sie gibt.
Jesus macht seinen Jüngern an diesem Beispiel deutlich, dass es auf die innere Einstellung ankommt, auf die Motivation, mit der ich spende. So besehen hat die Witwe mehr als alle anderen gegeben – ihren ganzen Lebensunterhalt. Um es im Wortspiel deutlich zu machen: für die einen war es eine Ab - gabe, für die Witwe war es Hin - gabe. Ihre Gabe ist Ausdruck ihrer Liebe, die verwurzelt ist in ihrer Liebe zu Gott. Der Blick für Gott hält den Blick für den Nächsten offen. Wenn aber der Blick für Gott verloren gegangen ist, geht auch der Blick für den Nächsten verloren.
Angesichts all der veränderten Rahmenbedingungen in unserer Gesellschaft käme es gerade jetzt auf unseren Mut, unsere Solidarität und unsere Handlungsbereitschaft an. Wir verfügen über Know-how und Können, über Fähigkeiten und Leistungsvermögen, über Erfahrungen und auch über Reichtum. All das wären beste Voraussetzungen für eine hoffnungsvolle Zukunft. Dazu aber müssten wir bereit sein, aktiv zu sein und zu handeln, statt nur zu fordern.
Persönliches Engagement statt mehr Staat muss das ganze soziale Leistungsspektrum umfassen. Nur so werden wir vermeiden, dass die sozialen Sicherungssysteme überfordert werden. Die Bereitschaft zum persönlichen Engagement wird sich dann auch darin zeigen, dass Menschen wieder bereit sind, sich für soziale, karitative oder politische Belange einzusetzen, Ehrenämter zu übernehmen oder generell die Gemeinschaft zu fördern.
Mit anderen Worten: Wir müssen uns den Herausforderungen stellen und dabei auch neue Chancen nutzen und Verantwortung übernehmen. Es muss in uns selbst einen Ruck zur Veränderung geben und nicht nur ein Warten auf die anderen oder den Staat.
Deshalb komme ich nochmals zurück auf den Hinweis Jesu. Die Spende der Witwe ist Ausdruck ihrer Bereitschaft zur Solidarität und ihres Gottvertrauens. Beides ist bei uns häufig verkümmert. Die vielfach berichtete Unzufriedenheit in unserem Land ist für mich auch ein Zeichen des fehlenden Vertrauens in Gott und von daher des mangelnden Mutes zum eigenen Engagement und somit der verkümmerten Solidarität. Noch so viel Geld kann die vielfache Unzufriedenheit der Menschen nicht verringern. Vor allem braucht es eine veränderte Sicht vom Leben und der Verantwortung, die wir alle haben. Aber wie gesagt, es kommt auf die innere Einstellung an.
Auch die Kirchensteuer, um noch einen Punkt kurz anzusprechen, ist für mich ein Ausdruck der Solidarität der Glaubenden bei der vielfältigen Sorge der Kirche für Hilfsbedürftige und Benachteiligte, wie auch für die Dienste der Verkündigung und der Feier des Glaubens.
Um das „Stille Sterben sozialer Einrichtungen“ zu verhindern gilt es, das Bewusstsein zu stärken, als Einzelne wie als Kirche und Gesellschaft, und unsere Verantwortung für eine lebenswerte soziale Kultur wahrzunehmen. Es darf weder „Pleiten im Sozialsystem“ noch „Pleiten“ im menschlichen Miteinanders geben.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
DIE LAGE
Die Lage ist, so sagen manche, kritisch
in dieser Kirche. - Doch bedenkt:
Noch nie gab es so viele Christen unter uns,
die fordern, dass sich alles bessern soll
und gefälligst anders werden muss. -
Für so was waren einst Propheten nötig
und Prediger der Buße, die das sagten.
Noch nie zuvor gab es so viele Gläubige,
die selbst entscheiden, was man glauben soll
beziehungsweise will - oder auch nicht. -
Wir mussten früher alles mögliche beachten,
das Credo oder auch die Bibel. -
Und nie, bedenkt, gab es so viele Christen,
die nicht das mindeste sich vorzuwerfen haben,
und ihr Gewissen weiß von keiner Sünde. -
Was war der Weg zum Heil, das Christentum,
doch früher kompliziert! -
Bedenkt das alles, die ihr Christen seid
in dieser lauen und verwirrten Zeit.
Bedenkt es wohl, damit ihr endlich seht,
es hilft nur eines: Umkehr und Gebet.
(Lothar Zenetti)