Die Predigt im Wortlaut:
Es ist gut, dass Sie hier stehen können! Ich kannte eine Frau aus Südtirol, ihr Sohn ist vor Jahren beim Bergsteigen im Himalaya abgestürzt. Es war sehr schlimm, dass sie ihren Sohn verloren hatte, noch schlimmer aber war für sie bis zu ihrem Tod, dass sie keinen festen Ort hatte um zu trauern.
Als Pfarrer bin ich bei den regelmäßigen Besuchen betagter oder gebrechlicher Menschen immer wieder Frauen begegnet, die mir von ihrem unvergesslichen Schmerz erzählt haben, weil sie ihre Männer, ihre Söhne im Krieg verloren hatten, und nie erfahren konnten wo sie begraben sind. Oder denken Sie an die Bilder von der verzweifelten Suche nach den 133 vermissten Menschen bei der Flutkatastrophe im Ahrtal, um ihnen mit dem Begräbnis einen bleibenden Platz zu geben – im Gegensatz z.B. zu den 230 000 Menschen, die beim Tsunami 2004 im Indischen Ozean im Meer verschwundenen sind. Noch heute trauern die Hinterbliebenen.
Die Trauer braucht ihren Ort. Für uns Christen gehört der Tod zum Leben. Deswegen haben die Christen Jahrhunderte lang die Verstorbenen in der Ortsmitte um die Kirche herum bestattet. In vielen Dörfern, z.B. im Alpenland, sehen wir heute noch solche Kirchhöfe.
Beim Gang zur Kirche, zum Gottesdienst, geht man zum Grab, hält so den Kontakt, nimmt die Bitte für die Verstorbenen mit in die Feier von Tod und Auferstehung. Und auf dem Weg zurück von der Eucharistie in den Alltag geht man – bei aller Trauer – getröstet im Vertrauen, dass unsere Verstorbenen in Gottes guten Händen geborgen sind.
Deshalb ist für mich die immer größere Anzahl von aufgelassenen Gräbern auf unseren Kirch- und Friedhöfen ebenso die zunehmenden Friedwälder sowie all die anonymen Bestattungen nicht nur ein bedenkliches Zeichen, sondern eigentlich eine Kapitulationserklärung vor dem Tod und damit auch ein Ausdruck für den Verlust an Glauben.
Weil viele Menschen den Glauben an die Auferstehung verloren haben, deshalb werden Sterben und Tod auch in unserer Gesellschaft immer mehr verdrängt und tabuisiert:
- Zunehmend mehr Menschen sind vereinsamt und sterben dann auch ohne Begleitung, sind also gerade in ihren letzten Stunden alleingelassen.
- Anonyme Bestattungen werden immer häufiger: „Ich will lieber keinem zur Last fallen, und bevor mein Grab verwildert, dann lieber so …“, sagte mir kürzlich eine Frau, die ein Leben lang das Grab ihrer Eltern gepflegt hat, das aber nicht mehr von ihren Kindern erwarten kann.
- Bei den zurückbleibenden Angehörigen wird Trauer immer mehr verdrängt. Sterbe- und Trauerbegleitung wird nicht mehr von der Familie, von Verwandten, Nachbarn und Freunden des Sterbenden oder des Verstorbenen wahrgenommen, sondern diese Aufgabe wird von „Spezialisten“, von Psychologen und ausgebildeten Trauertherapeuten übernommen.
- Und „der Abschied darf nicht wehtun“, heißt es, deswegen muss man das Abschiednehmen „möglichst schön gestalten“.
Ich frage mich, was daran schlimm ist, wenn das Herz blutet, weil ein lieber Mensch gegangen ist. So wie neues Leben unter Wehen und Schmerzen geboren wird, so reift auch erst unter dem Schmerz des Abschiednehmens das Gespür des Herzens, dass der Tod nicht das Ende ist, und dass es über den Tod hinaus neues Leben gibt.
Und schließlich würde sich die Frage nach der Beziehung im Leben stellen, und ich empfände es deshalb bedenklich und schlimm, wenn sich kein Schmerz beim Abschied bemerkbar machen würde.
Zur Liebe gehört eben auch das Leiden. Warum sonst sagen sich Menschen, die sich sehr, sehr gern haben: „Du, ich mag Dich leiden!“ Und wer nicht mit dem anderen leiden und um ihn trauern mag, der liebt ihn auch ganz sicher nicht.
Und wenn ich einen Menschen sehr gern hatte oder geliebt habe, dann will ich mich auch nicht schützen vor dem Schmerz, wenn etwa der Verstorbene aus dem Haus getragen oder der Sarg vor meinen Augen in die Erde gelegt wird.
Sterben und Tod werden zu einem Ereignis gemacht, das ausgegrenzt wird und nicht mehr Teil des Lebens ist. Deshalb lösen Sterben und Tod immer mehr Berührungsängste aus.
Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Konfrontation mit dem Tod die Frage nach dem eigenen Sterben bewusst macht und die sehr schwierige Frage nach dem: „Was kommt danach?“
Wer den Tod verdrängt, verdrängt die entscheidendste Frage unseres Lebens, nämlich die Frage nach dem „Woher und Wohin“. Und diese Frage hat eben zutiefst mit dem Glauben zu tun!
Der Evangelist Lukas hat für uns die Trauer der Witwe in Nain und die für sie aussichtslose Situation festgehalten. Sie hatte schon ihren Mann verloren und nun auch noch ihren einzigen Sohn. Damit war für sie als Frau im damaligen kulturellen Umfeld das denkbar Schlimmste eingetreten: Sie war mittellos, schutzlos, rechtlos. Nicht nur ihr Sohn liegt da auf der Bahre, sondern auch ihre Zukunft.
Der Schmerz, den sie erleidet, ist unbeschreiblich. Wie unermesslich groß der Schmerz des Verlustes wirklich ist, kann nur der nachempfinden, der es selbst erlebt, erfahren und erlitten hat.
Jesus sieht die Not der Mutter und hat Mitleid. Doch er schließt sich nicht dem Trauerzug an, der den Tod aus dem Blickfeld und deshalb den Toten aus der Stadt hinausbringen will. Er geht aber auch nicht einfach daran vorbei.
Im Gegenteil, er stellt sich diesem Umgang der Menschenmenge mit dem Tod entgegen. Jesus packt die Bahre, d.h. er stoppt ihren Umgang mit dem Tod bzw. mit dem Toten. Er bagatellisiert den Tod nicht, er verharmlost ihn nicht, er gestaltet den Abschied nicht schön.
Mitten in der Trauer setzt er ein Zeichen für das Leben. Jesus schenkt der Mutter eine neue Lebensperspektive. Sie kann jetzt anders mit ihrem Sohn umgehen.
Der Sohn ist und bleibt sterblich, er wird früher oder später gehen, aber Jesus macht klar, dass der Tod nicht das letzte Wort hat.
Für Jesus geht es nicht um eine Lebensverlängerung. Es geht ihm darum, mitten in der Stadt unter den Menschen gerade im Angesicht des Todes ein Zeichen für das Leben zu setzen.
Theologisch gedeutet ist das eine vorweggenommene Ostererzählung. Und von denen, die es begriffen haben, heißt es: „Alle wurden von Furcht ergriffen und priesen Gott!“
Wo Menschen am Ende sind, spätestens da wird klar, dass Gottes Möglichkeiten weiter gehen.
Ein Philosoph sagte: „Wer um das Sterben weiß, der lebt umso bewusster!“ Im Wissen um die Endlichkeit und Begrenztheit der eigenen Existenz, aber auch der Welt, werden nicht nur viele Probleme kleiner, um die sich Menschen ansonsten streiten, sondern sie stellen viel bewusster die Frage: „Was kommt danach?“
Wo aber drängt sich uns diese Frage deutlicher auf als hier an den Gräbern unserer Verstorbenen? Sie sind nicht verschwunden in einem dunklen Loch, sie sind auch nicht in einem Nirwana untergegangen. Ihr Leben ist geborgen in Gottes Liebe.
Deshalb sind die Gräber, ist dieser Friedhof ein so wichtiges, so konkretes Zeichen, eine Erinnerung für uns, dass wir einen festen Platz haben – über den Tod hinaus – bei den Menschen, die uns lieben, und ebenso bei Gott.
Stellen Sie sich das weite Meer vor. Ein Segelschiff setzt seine weißen Segel und gleitet hinaus in die offene See. Sie schauen ihm nach. Sie sehen, wie es kleiner und kleiner wird. Wo Wasser und Himmel sich treffen, verschwindet es. Dann sagen Sie: Nun ist es gegangen.
Ein anderer sagt: Es kommt!
Der Tod ist ein Horizont, und ein Horizont ist nichts anderes als die Grenze unseres Sehens. Wenn wir um einen Menschen trauern, freuen sich andere, ihn hinter der Grenze wiederzusehen.
Ein Glück, dass Sie hier einen Platz, ein Grab, haben, an dem Sie stehen und Ihren Verstorbenen nachschauen können, die uns nur vorausgegangen sind.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de