Die Predigt im Wortlaut:
„Krisenmodus“ ist Wort des Jahres 2023. „Krisen gab es schon immer. Aber in diesem Jahr scheinen die Krisen und ihre Bewältigung zu kulminieren“, so wurde die Entscheidung der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) begründet. „Noch nicht bewältigte Krisen wie Klimawandel, der Russland-Ukraine-Krieg oder die Energiekrise werden von neuen Krisen eingeholt.“ Wir könnten die Liste fortsetzen mit zahlreichen Stichworten: Krieg in Nahost, Russland, China, Nordkorea, dazu Klimakrise, Haushaltskrise, Bildungsmisere, Antisemitismus, Rassismus, Hass gegen Politiker. Die Gesellschaft befinde sich seit 2020 im „Krisenmodus“. Der Ausnahmezustand sei zum Dauerzustand geworden. Das löse bei den Menschen Angst, Unsicherheit und Ohnmacht aus. „Diese Gefühle beherrschen den Alltag und man weiß nicht, was kommt denn noch“.
Tatsächlich ist mir die Vielzahl an Beiträgen in den Medien, in Fernsehen, Radio, Internet und Zeitungen in diesem Jahr besonders stark aufgefallen. Psychologen geben Tipps, wie die Leute gerade in diesen Tagen – allen voran in Familie und Partnerschaft – miteinander umgehen können, um Streit und Konflikte zu vermeiden. Vielen Menschen scheint Wesentliches für unser Leben verloren gegangen zu sein. Selbst im unmittelbaren Miteinander nimmt aggressives Verhalten zu.
In seinem Kommentar zum Weihnachtsfest geht Heribert Prantl auf diese Situation ein und schreibt von der „ewigen Ebbe und Flut von Gewalt und Terror“ und verweist auf Weihnachten. Sehr zurecht erinnert der Journalist: „Die Zeiten heute sind so furchtbar unfriedlich, wie sie es in den Zeiten von Christi Geburt auch schon waren. Damals hielt das römische Imperium Jerusalem besetzt, plünderte das Land, terrorisierte die Bevölkerung und schlug Widerständler ans Kreuz. Die Lehre eines dieser Gekreuzigten hat dann die Welt verändert … Die Botschaft des Jesus von Nazareth … drehte das alte Weltbild um … Man teilt die Geschichte ein in eine Zeit vor Christus und in eine Zeit nach Christus. Weihnachten feiert diesen Wendepunkt.“
Immer wieder haben Menschen im Verlauf der Geschichte aus dieser Botschaft Zuversicht und Mut geschöpft, konnten Zeichen für das friedliche Miteinander setzen. Dennoch wurde immer wieder diese lebenswichtige Botschaft ignoriert oder vergessen und es kam zu Unmenschlichkeiten und Barbarei, zu Streit und Hass.
An diesem Weihnachtsfest sind es genau 800 Jahre her, dass Franziskus in der Heiligen Nacht des Jahres 1223 in Greccio im Rietital, also etwa 90 Kilometer von Assisi entfernt, erstmals eine Krippe gestaltete. In ergreifender Weise, so berichtet der Biograph Thomas von Celano sehr detailreich, habe Franziskus voll Liebe und Leidenschaft das Evangelium der Heiligen Nacht verkündet: Gott kommt zu uns herunter, er kommt auf Augenhöhe, er ist uns ganz nah.
Franziskus wollte „die bittere Not, die Jesus schon als kleines Kind zu leiden hatte, wie er in eine Krippe gelegt, an der Ochs und Esel standen, und wie er auf Heu gebettet wurde, so greifbar als möglich mit leiblichen Augen schauen“. Die Not in der Welt darf uns nicht egal sein.
Sogar ein junges Paar mit einem Neugeborenen kam dazu. Die Liebe Gottes, der sich als schutzloses und verletzliches Kind in menschliche Arme gelegt hat, wurde anschaulich.
Für Franziskus war das alles andere als eine Spielerei. Die Erinnerung an die Menschwerdung Gottes wollte er zu einem „Weckruf“ für Menschen seiner Zeit werden lassen.
Franziskus entstammte einer vornehmen und sehr vermögenden Familie, war gebildet und ehrgeizig. Er ging auf Handelsreisen, wollte Ritter werden und in den Adelsstand aufsteigen. Im Kampf gegen die rivalisierende Stadt Perugia, geriet er in Kriegsgefangenschaft und erkrankte schwer. Franziskus begann sein Leben zu überdenken, fand mehr und mehr zu sich selbst. Schließlich wurde ihm in der Begegnung mit einem Aussätzigen klar, dass nicht die ausgewählten Freunde, sondern der Nächste, der unverhofft seinen Weg kreuzt, ihn weiterbringt. „Menschen im Elend weckten mein Herz“, schrieb er später. Franz pflegte Aussätzige und baute die zerfallende Kirche San Damiano wieder auf.
Bald schlossen sich ihm Gefährten an. Gemeinsam stellten sie sich den Konflikten der Zeit z.B. familiäre Krisen; soziale Ausgrenzung ganzer Menschengruppen, politische Kämpfe, drohende Bürgerkriege. Die Welt war auch zu dieser Zeit im „Krisenmodus“. Deshalb wagte Franz sogar im Jahr 1219 in Damiette in Ägypten die historische Begegnung mit Sultan al-Malik al-Kamil. Auch wenn jeder seinem Glauben verbunden blieb, wurde damals deutlich, dass ein ehrlicher Dialog zwischen Muslimen und Christen möglich ist. Der Sultan habe in Franziskus einen außergewöhnlichen Menschen erkannt und sei von dessen Worten im Innersten berührt gewesen. Der Sultan habe sogar das Gebet von Franziskus gebeten. „Der friedliche Dialog ist nicht das Werkzeug derjenigen, die ,schwach‘ sind“, habe ich gelesen.
Die Weihnachtsfeier in der Höhle von Greccio hat im damaligen wie auch heutigen Kontext provokative Züge – in einer Welt im „Krisenmodus“. Anstatt uns auf die Botschaft der Weihnacht zu besinnen, gibt es Ratschläge von Psychologen zum möglichst konfliktfreien Feiern, dazu eine Flut von Überlegungen, ob Weihnachten nicht auch ohne die biblische Botschaft gefeiert werden könne. So gibt es etwa in der Bundeshauptstadt in diesen Wochen nur einen Wintermarkt, der die Menschen zusammenbringen soll, keinen Weihnachtsmarkt.
Der Papst sagte vor wenigen Tagen: Franziskus wollte vor genau 800 Jahren durch die Darstellung der Geburt Christi Konkretheit verleihen: „Kein Gemälde, keine Statuen, sondern leibhaftige Menschen waren zu sehen, damit die Wirklichkeit der Menschwerdung deutlich wird.“ Papst Franziskus wünscht, dass das diesjährige Weihnachtsfest „mit Glauben und Freude“ gelebt werde. „Möge das Fest ein Zeugnis für das Evangelium sein!“
Gerade in diesen Wochen fragen junge Eltern, ob sie Kindern vom Christkind erzählen sollen. Darauf antworteten mehrere Erziehungswissenschaftler: „ Ja!“. Der Glaube daran fördere sogar die Persönlichkeitsentwicklung, die soziale Kompetenz und die Kreativität von Kindern. Das führe beispielsweise dazu, dass Kinder in ihre Wunschzettel auch Schwache, Kranke und Benachteiligte mit einbezögen, sodass für sie an Weihnachten nicht nur der Konsum im Mittelpunkt stehe.
Einer der Erziehungswissenschaftler sagte, dass die Eltern auch selbst etwas davon hätten: „Das Schöne ist …, dass du als Mutter, als Vater auch ein Stück weit wieder dein inneres Kind spürst. Also jenes Kind, das die Vorweihnachtszeit auch erlebt hat und wunderbare Momente damit verknüpft“. Diese Erfahrungen stehen für Spiritualität in dem Sinne, dass es noch etwas gibt, was jenseits von Zeit und Raum ist. Das Prinzip von Hoffnung lebt in dem, auf den wir in der Krippe schauen. Zudem betonen die Pädagogen: „Traditionen und Rituale geben den Kindern Sicherheit.“ Aber: „Je weniger das Christliche noch gelebt wird, umso schwieriger wird‘s wohl werden,“ diese Botschaft zu vermitteln.
Fast neun von zehn Deutschen gab bei einer Umfrage an, sie würden das Fest feiern, aber nur jeder fünfte plant einen Gottesdienst mitzufeiern. Deshalb zurück zum Gedanken von der Welt im „Krisenmodus“. Ist nicht ein Grund für die besorgniserregende Entwicklung die Gottvergessenheit in unseren Tagen? Im Vordergrund des Denkens und Handelns stehen die Befürchtungen um den materiellen, finanziellen Wohlstand im Kleinen wie im Großen, das eigene Vorteilsstreben nach dem Motto „zuerst ich und meine Interessen“ in der unmittelbaren eigenen Lebensgestaltung bis hin zum Hegemonialstreben in der Weltpolitik?
Der Journalist Heribert Prantl schreibt in der Süddeutschen Zeitung zum Weihnachtsfest: „Diese Botschaft ist nicht von gestern, sie ist für heute. Heute und hier soll man aufstehen aus der Hoffnungslosigkeit.“ Der „Weihnachtsglaube sorgt sich nicht darum, Gottes Göttlichkeit zu retten, sondern die Menschlichkeit der Menschen. Er … strebt nach tatkräftigen Veränderungen. Weihnachten ist das Fest, an dem Gott sich klein und schwach macht, auf dass die Menschen verstehen, dass sie das Überwinden der von ihnen angerichteten Katastrophen nicht einem allmächtigen Gott im Himmel überlassen können …“ Die Botschaft von Weihnachten „verlangt ziemlich viel: orare et laborare – beten und arbeiten an einer besseren Welt.“
Die Konsequenz wäre, „wenn Gott seine Allmacht aufgibt, dann kann und soll es auch der Mensch“ tun. „Dann kann er von seinem Wahn ablassen, allmächtig zu werden und alles an sich zu reißen … Zum Menschlich- und Mündigwerden des Menschen gehört es, nicht immer neuen Messiassen nachzulaufen, wenn diese Heil und Größe versprechen. Solche Großversprecher sind nicht in Windeln gewickelt; sie sind in Unrecht verwickelt; sie führen nicht, sie verführen; ihr Weg ist nicht der Weg der Achtung, sie gehen den Weg der Verachtung.“
Viele Zeitgenossen müssen davon wenigstens etwas ahnen, wenn sie – ansonsten noch so geschäftig und hart im Urteil über die Welt und die Menschen – am Heiligen Abend vor dem Christbaum stehen und mit Tränen kämpfen. Weihnachten möchte unsere Herzen erwärmen, um dann die Lebensbotschaft der Heiligen Nacht weiterzusagen und durch ein menschenfreundliches und herzliches Miteinander erfahrbar zu machen.
Es ist keineswegs anachronistisch oder altmodisch, sondern in einer Welt im „Krisenmodus“ – wie zur Zeit der Geburt Jesu in Betlehem oder zur Zeit des Heiligen Franziskus in Greccio – höchst aktuell: Nehmen wir das Kind in der Krippe in den Blick, wie es im Lied heißt „Ich steh‘ an deiner Krippe hier, o Jesu, du mein Leben; ich komme, bring‘ und schenke dir, was du mir hast gegeben. Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel' und Mut, nimm alles hin und lass dir's wohl gefallen“. Feiern wir so frohen Herzens Weihnachten und zeigen unserer Welt einen Weg aus dem „Krisenmodus“!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Wenn du dich satt gesehen hast
an dem Kind in der Krippe,
geh nicht fort.
Schau auch auf die,
die er um sich versammelt hat.
Bevor du gehst,
mach erst wieder
seine Augen zu deinen Augen,
seine Ohren zu deinen Ohren
und seinen Mund zu deinem Mund.
Mach seine Hände zu deinen Händen,
sein Lächeln zu deinem Lächeln
und seinen Gruß zu deinem Gruß.
Dann erkennst du in jedem Menschen
deinen Bruder, deine Schwester.
Wenn du ihre Tränen trocknest
und ihre Freude teilst,
dann ist Gottes Sohn wahrhaftig geboren.
Du darfst dich freuen,
alle Menschen können sich freuen,
können leben -
in dieser Nacht
und für immer.
Lothar Zenetti