Die Predigt im Wortlaut:
„Fürs gute Leben“ – so lautet die Überschrift zum aktuellen Kommentar in einer überregionalen Tageszeitung. Darunter die Frage: „Wenn spätere Generationen auf diese Zeit schauen, wie werden sie über uns denken?“
Wenn kommende Generationen in den Berichterstattungen unserer Tage blättern, dann finden sie eine Fülle von Schlagzeilen über unzählige Demonstrationen und Proteste. Da sind die großen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus. Nach wie vor gibt es Klima-Proteste. Gleichzeitig gibt es Widerspruch gegen einen Windpark auf dem Gebiet der eigenen Gemeinde. Ebenso werden lautstark die Pläne für eine Stromleitungstrasse durch die eigene Region bestritten. Landauf landab gibt es Sympathieveranstaltungen für Israel, aber auch Pro-Palästina-Demos. Die Lokführer haben gestreikt, die Mitarbeiter im Öffentlichen Personennahverkehr und in Transportunternehmen tun dies immer noch. Die Mitarbeiter im Einzelhandel gehen ebenso auf die Straße wie Klinikmitarbeiter, während besorgte Bürger die Schließung eines wohnortnahen Krankenhauses fürchten. Informationsveranstaltungen über die beabsichtigte Einrichtung für Menschen mit Migrationshintergrund gehen in einem Konzert von Pfiffen und Buhrufen unter. Die noch nicht geklärte Frage der Finanzierung einer Kita ruft Eltern mit ihren Kindern auf den Plan, die mit Plakaten ihren Unmut am Rande einer Stadtratssitzung kundtun. Die fürwahr nur wenigen Beispiele sollen genügen, um anzudeuten, dass unsere Epoche geprägt ist von unzähligen Protesten, mit denen viele ihr jeweiliges Anliegen versuchen, öffentlich zu machen.
Daneben gäbe es noch eine Vielzahl von meines Erachtens sehr wichtigen Themen, für die sich niemand oder allenfalls wenige engagieren. Ich nenne als Beispiele den Schutz menschlichen Lebens vor und nach der Geburt bis hin zum wertschätzenden Umgang mit alten, gebrechlichen Menschen. Wem ist die große Not des Fachkräftemangels in der Betreuung und Pflege von Menschen mit Behinderungen oder von Alten, Betagten und Gebrechlichen ein Anliegen? Wer engagiert sich für diejenigen, die nach Jahrzehnten aus ihrer Mietwohnung ausziehen müssen, weil sie die stark gestiegenen Mietforderungen nicht mehr bezahlen können? Wer nimmt die Ohnmacht der immer größeren Zahl von Menschen wahr, deren Einkommen nicht ausreicht, ihre Lebenshaltungskosten zu bestreiten.
Zugleich aber zeigen die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte: die großen Summen, die in Strukturen, Maßnahmen und Hilfsangebote investiert werden, führen nicht automatisch zu mehr Mitmenschlichkeit und damit zu einer besseren Lebensqualität.
Was wir in allen Bereichen brauchen, ist mehr noch als ein höheres Maß an staatlicher Organisation, ein größeres Verantwortungsbewusstsein, persönlicher Einsatz und ein klarer Blick für die Grundbefindlichkeiten des menschlichen Lebens.
- Eine noch so große Zahl an Krippenplätzen gewährleistet nicht die persönliche Geborgenheit, die ein Kind in seinen ersten Lebensjahren braucht.
- Ein noch so vereinheitlichtes Schulsystem ist kein Garant dafür, dass sich menschliche Klugheit und Leistungsbereitschaft auf allen Ebenen entwickeln.
- Ein noch so hoher Pflegesatz kann nicht sicherstellen, dass sich ein hilfsbedürftiger Mensch wirklich angenommen fühlt.
- Noch so viel Geld im medizinischen Bereich kann dem Einzelnen nicht seine eigene Verantwortung für seine Gesundheit abnehmen und auch nicht garantieren, dass er als Patient und nicht nur als Abrechnungsfaktor angesehen wird.
- Auch wenn der Staat noch so viel Geld in die Hand nimmt, ist damit keine menschenwürdige und gerechte Gesellschaft garantiert.
Was unserer Gesellschaft fehlt, ist die Sympathie im ursprünglichen Sinn des Wortes, d.h., aus dem Griechischen übersetzt, die Bereitschaft, wirklich mitzufühlen und mitzuleiden.
Damit sind wir bei der Botschaft des heutigen Evangeliums: Ein Aussätziger kam zu Jesus.
Ein Mensch war sichtbar geschlagen. Er war von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen, um nicht noch andere in sein Elend mit hineinzuziehen. Ein Aussätziger war mitten im Leben wie tot. Aussätzige mussten von weitem auf sich aufmerksam machen, um Passanten zu warnen.
So blieben die von dem Übel und der Not des Aussatzes Geschlagenen unter sich, während sich die Starken, Fitten, Gesunden ihnen gegenüber konsequent verschlossen zeigten.
Jesus aber hat sich nicht abgegrenzt. Er hat die Ausgegrenzten an sich herangelassen. Er ist sogar mit ihrem Leiden in Berührung gekommen. Er zeigte Mitleid. Das Elend ließ ihn nicht kalt. Er hat innerlich wie äußerlich keine Distanz gehalten. Die Not ging ihm durch und durch, berührte ihn im Innersten. Und so kam aus tiefstem Herzen: „Ich will es – werde rein!“ Diese herzliche Zuwendung war heilsam!
Dass der Aussätzige zu Jesus kam, macht deutlich, dass seine Art mit den Menschen, ihrer Not, ihrem Leid umzugehen, auffiel. Der Aussätzige kam mit großem Vertrauen zu Jesus. Und wie gehen wir mit den Hilfsbedürftigen unserer Tage um? Werden wir als Christen, werden wir als Kirche noch erlebt als empathische, hilfsbereite und wirkungsvolle Helfer?
Denken wir nur an einige der vielen Notleidenden und Nöte unserer Zeit:
- An Kinder, denen persönliche Zuwendung fehlt,
- an Jugendliche, die überfordert sind, weil nicht ihre konkreten Begabungen gefragt sind, sondern bestimmte Erwartungen erfüllt werden sollen,
- an alte, behinderte, kranke Menschen, die als Kostenfaktor gesehen werden und sich nur als Last vorkommen müssen,
- an die Verlierer von Gewinnmaximierungsprozessen, an Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger,
- an diejenigen, die in großer Not und Bedrohung aus ihrer Heimat fliehen mussten,
- an all die Menschen, die eben nicht aus eigener Schuld oder Trägheit zu der immer größer werdenden Bevölkerungsgruppe gehören, die nur über einen kleinen Teil des vorhandenen Vermögens verfügen.
Die häufig negative Sicht auf die Betroffenen in den genannten Beispielen macht deutlich, dass viele in unserer Gesellschaft keinerlei persönliche Berührung mit der Not dieser Menschen haben und deshalb auch schnell in ihrem Urteil und entsprechend distanziert in ihrem Handeln sind.
Von daher ist eine Feststellung bemerkenswert: wenn Interessen der Wirtschaft berührt werden wie z.B. ganz aktuell beim sogenannten „Lieferkettengesetz“ oder wenn gar Finanzsysteme ins Wanken geraten, dann werden sofort politische Maßnahmen ergriffen oder – wenn es sein muss – große Summen zu „Rettungspaketen“ geschnürt. Hingegen gelten Unterstützungen und Förderungen in den Bereichen von Familie, Kinder, Bildung, Soziales, Pflege, Entwicklungshilfe, Umwelt meist als nicht finanzierbar. Es zeigt sich wiederum: In allem und bei allem kommt es eben auf den persönlichen Bezug zu der konkreten Not an!
Manchmal bekomme ich zu hören: „Heute kann man sich keine Gefühle mehr leisten!“
Im Blick auf Jesus dürfen wir uns als Christen damit niemals zufriedengeben. Im Auf und Ab des Lebens gibt es unendlich viele Möglichkeiten zum „Mit – Leiden“.
In der Nachfolge Jesu sind wir berufen, uns um die Not der Menschen anzunehmen. Gewiss ist der Einzelne mit großen Maßnahmen überfordert, aber wo wir uns nicht abwenden, sondern uns anrühren lassen und uns die Fähigkeit zum Mit-Leiden bewahren, da kann viel Not und Leid gewendet werden. Es kommt eben auf das mitfühlende Herz an!
„Fürs gute Leben“ – so die zitierte Überschrift verbunden mit der Frage: „Wenn spätere Generationen auf diese Zeit schauen, wie werden sie über uns denken?“
Wird dann nur zu lesen sein, dass wir mit zahlreichen Demonstrationen und Protesten gegen all das Stellung genommen haben, was wir als Bedrohung befürchten? Oder wird auch zu lesen sein, dass wir uns „fürs gute Leben“ der Menschen engagiert haben. Ein Test dafür wäre z.B., ob der Aussätzige sich heute zu uns wagen würde?
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Dankbar sein
und erzählen
von dem
was uns gesund macht.
Dankbar sein
und erzählen
von dem
der uns gesund macht.
Dankbar sein
dass Gott
in unser Dasein
eingreift.
(Autor unbekannt)