Die Predigt im Wortlaut:
Hunderttausende Menschen sind im ganzen Land auf die Straßen gegangen aus Sorge um eine gefährliche Entwicklung. Seit dem bekannt gewordenen Geheimtreffen in Potsdam, wo ein Zirkel nationalstaatlich Gesinnter über mögliche Abschiebungen von Millionen Menschen nachgedacht hat, werden sogar Kinder mitgenommen, wenn u.a. „Omas gegen rechts“ zum Protest rufen. Die angedachte „Remigration“ soll bestimmte Bevölkerungsgruppen aus Deutschland deportieren: Asylbewerber sowie Ausländer mit Bleiberecht und „nicht assimilierte“ deutsche Staatsbürger, also weit mehr als die offiziell ausreise-pflichtigen Migranten. Gegen solches Denken erhebt sich in der Bevölkerung aktuell zu Recht Protest!
In zahlreichen deutschen Städten haben bislang ungefähr eine Million Menschen gegen rechtsextreme Denkweisen und die damit stark verwobene AfD demonstriert. Weitere Demonstrationen, Kundgebungen und Versammlungen finden statt bzw. werden organisiert.
Am vergangenen Mittwoch war in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Ursula Münch abgedruckt. Die bekannte Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing sagte zu den Protesten: „Das war zwar wichtig, aber das reicht nicht!“ Die Politikwissenschaftlerin befürchtet, dass die Proteste gegen Rechtsextremismus schnell wieder abflachen werden. Deshalb fordert sie, dass sich die Menschen weiter engagieren müssten.
In einem Kommentar in der WELT habe ich gelesen: „Es ist gut, dass nun Hunderttausende auf Deutschlands Straßen gehen, um gegen die AfD und das Gedankenungut zu demonstrieren, das sie und ihr Umfeld propagieren ... Migranten und ethnisch ‚unreine‘ Deutsche des Landes zu verweisen.“
Aber „wo waren die Massen, nachdem am 7. Oktober das größte Massaker an Juden nach dem Holocaust stattgefunden hat? … Die Hamas … hat am 7. Oktober auf entsetzliche Weise bewiesen, dass … sie entschlossen ist, den Judenstaat zu vernichten.“ Dann heißt es im Blick auf die Demonstrationen gegen rechts: „Wenn die ‚Nie wieder‘-Gesinnung ernst gemeint wäre, … dann hätte es nach dem Hamas-Massaker eine ähnlich starke Mobilisierung geben müssen wie jetzt die gegen die AfD.“
Ja, so frage ich, wo waren die Demonstranten in den vergangenen Jahren, in denen es immer häufiger Äußerungen gab, die nicht weit von der NS-Ideologie entfernt sind, wie z.B. „Migranten ohne deutschen Pass haben hier nichts verloren“ ebenso „alle ethnisch ‚unreinen‘ Deutschen.“ So z.B. ein O-Ton aus dem Jahr 2017.
Wie ist es möglich, dass trotz der seit Jahren besorgniserregender Parolen, die Zustimmung zu denen, die sie verbreiten, immer größer wird?
Wie ist es möglich, dass trotz der Geschichte des Dritten Reiches Antisemitismus und Judenfeindlichkeit und auch Geringschätzung für Behinderte immer unverhohlener um sich greifen?
Liegt der Grund dafür vielleicht darin, dass unsere Empörungsgesellschaft immer nur punktuell reagiert, insbesondere wenn ihre eigenen Interessen unmittelbar berührt werden oder sie selbst betroffen sein könnten, dass aber das geistige Fundament nicht ausgeprägt ist, auf dem wir stehen und von dem aus wir Verantwortung für unsere Welt und das Leben wahrnehmen?
An den Schulen nimmt nach Beobachtungen des Deutschen Lehrerverbandes der Anteil der Schüler zu, die gesellschaftliche Grundwerte ablehnen. „Es ist so, dass ein Teil der Schüler an Deutschlands Schulen nicht auf dem Wertefundament des Grundgesetzes steht“, sagte in diesen Tagen der Präsident des Lehrerverbandes Stefan Düll. Besonders offenkundig seien die Probleme nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober geworden.
Auch Schülerinnen und Schüler ohne muslimischen Hintergrund zeigen ihre Verachtung für die Wertekultur des Grundgesetzes, betonte Düll. Es gibt auch einheimische Antisemiten oder oder Rassisten. Der Verbandspräsident sagte weiter: „Solche Schüler bewegen sich zum Teil in einer Parallel-Wirklichkeit: In digitalen Blasen, in sozialen Netzwerken bekommen sie gespiegelt, dass ein derartiges Verhalten, ob nun homophob, rassistisch, antisemitisch oder sexistisch, vollkommen normal ist“.
Deshalb ist es durchaus angebracht, nicht nur auf die Erkenntnisse der PISA-Studie zu reagieren und an Grundschulen pro Woche eine Stunde mehr Deutsch und Mathematik zu unterrichten oder die sogenannte „Verfassungsviertelstunde“ einzuführen. Um die Heranwachsenden zu prägen und ihnen ein geistig festes Fundament zu verschaffen, darf der Religionsunterricht nicht weiter in Frage gestellt werden. Es gilt, Menschen zu ermutigen, nicht nur auf öffentlichen, medialen Druck zu reagieren, sondern sie zu motivieren aus eigener Überzeugung Stellung zu beziehen.
Damit sind wir beim Evangelium, das uns heute verkündet wurde. Jesus lehrte in der Synagoge „wie einer der göttliche Vollmacht hat, nicht wie ihre Schriftgelehrten.“ Er rief damit aber auch Widerspruch hervor, wie der Evangelist Markus berichtet. Ein Mensch, „der von einem unreinen Geist besessen war“ wird offenbar durch die Verkündigung Jesu an einem wunden Punkt seines Lebens berührt und wehrt sich gegen die notwendige Veränderung. Sehr anschaulich schildert der Evangelist, wie der Mann hin- und hergerissen wurde. Letztlich aber erweist sich die Kraft Jesu stärker.
Wer die Botschaft Jesu ernstnimmt, wird immer wieder in diese innere Spannung geraten, dass er sich entscheiden muss, auch auf die Gefahr hin dafür angegriffen zu werden.
- Das ergeht verantwortungsbewussten Eltern so, die ihre Kinder hinweisen auf sinnlose und gefährliche Unternehmungen, auch wenn alle anderen Heranwachsenden und Jugendlichen das so machen, weil es eben „in“ ist oder heute „normal“ zu sein scheint.
- Das ergeht engagierten Menschen so, die nicht nur aus augenblicklichen Erwägungen, sondern mit Weitblick versuchen, das Miteinander in der Gesellschaft zu gestalten.
- Das ergeht Menschen in der Welt der Wirtschaft und der Arbeit so, die nicht jeden Trick anwenden und nicht skrupellos alles ausnutzen, um sich einen Vorteil zu verschaffen.
- Das ergeht Menschen so, die in der Öffentlichkeit auf die Dämonen hinweisen, die heute viele umtreiben – Fremdenfeindlichkeit, Menschenverachtung, Habgier, Gewinnsucht, soziale Kälte –, und davor warnen.
- Das ergeht Politikern so, die gegen den allgemeinen Trend in gesellschaftspolitischen oder ethischen Fragen nach christlichen Grundsätzen ihre Entscheidungen treffen.
- Das ergeht Journalisten in der Welt der Massenmedien so, die nicht jeden Nonsens mitmachen und den Mut aufbringen, das Verhalten der eigenen Zunft zu kritisieren.
Im Leben und für das Leben braucht es Mut und Standfestigkeit. Die Geschichte zeigt, wenn die Kirche eindeutig Stellung nimmt – wie ein Bischof von Galen in der Euthanasiefrage – gegen bedenkliche und menschenverachtende Haltungen erntet sie Widerspruch. Wenn die Kirche sich für den Schutz menschlichen Lebens – am Anfang wie am Ende – ausspricht, wenn sie Bedenken erhebt, etwa gegen die Geschlechtsumwandlung schon junger Menschen, wenn sie den Wert und die Würde auch des geschwächten und behinderten Lebens betont, wenn sie Bernd Höcke widerspricht, der Kinder mit Behinderung vom Regelunterricht ausschließen will oder Inklusion als „Ideologieprojekt“ abqualifiziert, erntet sie Widerspruch. Wenn die Kirche unmissverständlich Stellung nimmt zu den braunen Umtrieben, erntet sie Kritik, distanziert sie sich nicht eindeutig genug von einer Darstellung, die das menschenverachtende Tun verharmlost, hagelt es ebenso Kritik. Das Tun der Kirche wird immer unterschiedliche Reaktionen hervorrufen, wenn wir Profil zeigen und auch den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen.
Aber so unerschrockene Menschen wie Pater Alfred Delp, Ruppert Mayer, Franz Reinisch, Dietrich Bonhoeffer oder die Geschwister Scholl und wie sie alle heißen, Christen im Widerstand gegen das gottlose und menschenverachtende Naziregime, machen uns Mut, die Auseinandersetzung mit den teilweise schrecklichen und schlimmen Zeitgeistern zu wagen.
Unsere Welt braucht überzeugte und überzeugende Christen, die andere ansprechen, sie unruhig machen und so auch persönliche Entscheidungen herausfordern. Gerade dann, wenn es heißt: „Die Kirche soll sich raushalten“, „das gehört nicht hierher“, ist es wohl ganz besonders wichtig, die Botschaft Jesu zu verkünden als Anspruch an die Menschen und die Welt. – In solchen Situationen zeigt die Verkündigung vielleicht dadurch Wirkung, wenn ein Mensch betroffen reagiert und sich zunächst gegen eine notwendige Veränderung wehrt.
Es braucht Christen des Wortes und der Tat in allen gesellschaftlichen Schichten. Es braucht Menschen, die durch ihr Handeln, durch ihren Einsatz für das Leben, gerade das geschwächte anderen Hoffnung und Mut machen. Es braucht Christen, die ihren Mitmenschen – wenn es sein muss – in den Ohren liegen mit ihrer Sicht der Dinge. Wir müssen in unseren Tagen über die Grundlagenkrise reden; darüber, dass Sinn, Orientierung und Verankerung verloren gehen.
Wer sonst könnte all den kurzsichtigen und gefährlichen Entwicklungen in unserer Gesellschaft widersprechen, wenn nicht wir Christen, denen eine einmalige Lebensbotschaft gegeben ist. Diese Botschaft fordert uns heraus, sie fordert unsere Auseinandersetzung, auch unseren Widerspruch, sie bringt uns letztlich aber dazu, uns zu entscheiden.
Ich wünsche es uns, dass wir selbst immer wieder unruhig gemacht werden durch die Verkündigung der Frohen Botschaft Jesu, dass wir uns dann aber immer wieder bewusst entscheiden für die Lebenshaltung, die Gott uns durch Jesus vorgelebt hat. Und ich wünsche uns, dass wir die Welt um uns herum immer wieder unruhig machen mit dem Anspruch Jesu. Dann werden wir ernstgenommen in unserem Auftrag als Kirche für die Welt.
Die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch sagte zu den derzeitigen Protesten: „Das war zwar wichtig, aber das reicht nicht!“ Damit der „Aufstand der Anständigen“, wie es bei den Protesten heißt, damit der Einsatz für ein gutes Leben und Zusammenleben kein momentanes Erlebnis bleibt, braucht es unser Engagement ob bei der Frage von „Remigration“, ob beim „Lebensschutz“, ob bei der notwendigen „Wertediskussion“ – nicht nur bei Demonstrationen!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Wir haben diskutiert
bis nach Mitternacht
ob Glauben
die Menschen
zufrieden oder unzufrieden
ruhiger oder unruhiger
macht
Am Ende waren wir
gar nicht zufrieden und
schliefen auch schlecht
Wie
soll man das nun
deuten?
Herr, mach’ uns unruhig
und lass uns so erkennen,
wie wir als Christen mutig handeln sollen!
(Gedicht: Lothar Zenetti)