Die Predigt im Wortlaut:
Eine „Verfassungsviertelstunde“ soll es künftig einmal in der Woche an Bayerns Schulen geben, um den Schülern die freiheitliche-demokratische Grundordnung näherzubringen. Die Heranwachsenden sollen sich mit Inhalten des Grundgesetzes oder der bayerischen Verfassung auseinandersetzen. So lautet eine der bemerkenswerten Anstöße in dem fast 90 Seiten umfassenden Koalitionsvertrag der Staatsregierung. Man mag über diesen Anstoß denken, was man will, für mich macht er zumindest deutlich, dass allmählich verstanden wird: Es braucht als Grundlage für das Leben mehr als kognitive Bildung, mehr als sprachliche, mathematische, naturwissenschaftliche, digitale und IT-Kenntnisse sowie einige Hinweise zu sozialen Verhaltensformen. Es braucht ein geistiges Fundament! Bislang wird bei bedenklichen gesellschaftlichen Entwicklungen allenfalls versucht, die Symptome zu kurieren.
Bei einer Veranstaltung in der Katholischen Akademie in München in der vergangenen Woche prägte der Politologe Werner Weidenfeld in einem Diskussionsbeitrag das Wort von Deutschland als einem „Land in Orientierungsnot“. In diesem Zusammenhang verwies er auf die immer häufigeren Wutreaktionen auf Straßen und Plätzen der Republik. Seine Mahnung war, dass es in dem – wie er es nannte – derzeitigen „Deutungsuniversum“ für die Menschen verlässliche Orientierung brauche. Dabei erinnerte er an ein Buch von Wolfgang Huber.
Der frühere Vorsitzende des Rates der EKD, der Berliner Bischof Wolfgang Huber, schrieb im Jahr 1999 in seinem Buch „Kirche in der Zeitwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche“: „Das christliche Konzept der Freiheit aus Glauben verfügt in der pluralistischen Gesellschaft nicht mehr über ein Sinnstiftungsmonopol, hat aber weiterhin einen wichtigen Beitrag zu der Frage zu leisten, wie menschliche Freiheit in einer Zeit hoher gesellschaftlicher Komplexität verstanden, verantwortet und gelebt werden kann.“ Dazu benennt Bischof Huber auch die Aufgabe der Kirche u.a. mit der Aussage: „Die Kirchen sind herausgefordert, den Menschen persönliche Gewissheit zu vermitteln und sich an der Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Leitbild zu beteiligen. Das christliche Glaubensangebot ist dabei neu verständlich zu machen.“ Dieses Wort ist gerade heute von bleibender Aktualität!
Deshalb ist für uns als Kirche u.a. entscheidend wichtig, junge Eltern zu begleiten und sie in ihrem Bemühen um die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen. Zugleich gilt es, die Chancen zu nutzen: in Kitas, im schulischen Religionsunterricht, und ebenso in der kirchlichen Bildungsarbeit. Darum ist die Aussage im Koalitionsvertrag beachtlich: „Die Kirchen haben eine unverzichtbare Bedeutung für die Vermittlung der Werte, die unserem Zusammenleben zugrunde liegen. Wir stehen daher zu den Kirchen und wollen den Dialog mit ihnen und mit Glaubensgemeinschaften und religiösen Vereinigungen fortsetzen und ausbauen.“
Die sogenannte „Verfassungsviertelstunde“ ist für mich zunächst aber nur Ausdruck der wachsenden Erkenntnis, dass es eine wert – volle Grundlage für das Leben der Menschen und das Zusammenleben in der Gesellschaft braucht. Die reflexartige Kritik auf die politischen Überlegungen zur Auseinandersetzung mit der Verfassung mit dem Verweis auf den Lehrermangel, sind für mich eher ein Hinweis, dass die Prioritäten noch nicht wirklich klar sind. In der derzeitigen Umbruchssituation in Welt und Gesellschaft braucht es dringend eine Besinnung auf die Grundwerte.
Dazu bringe ich gerne das Diktum des früheren Staatsrechtlers sowie Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde aus dem Jahre 1964 in Erinnerung: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Denn das Grundgesetz selbst ist – nach dem Desaster des Dritten Reiches – inspiriert vom Geist der Frohen Botschaft.
Seit Jahren diagnostizieren wir eine zunehmende Gewaltbereitschaft und Aggressivität schon unter Kinder und Jugendlichen. Wir erschrecken über die Nachrichten von Gewalttaten wie z.B. in Lohr, wo ein Vierzehnjähriger von einem Gleichaltrigen durch einen Kopfschuss ermordet wird oder vor zwei Tagen in Horn-Bad Meinberg in Nordrhein-Westfalen. Dort haben drei Jugendliche im Alter von 14 und 15 Jahren einen Obdachlosen zu Tode geprügelt und ihre Gewalttat gefilmt und verbreitet. Nahezu täglich erreichen uns solche Meldungen.
Den Menschen im „Land in Orientierungsnot“, wie Professor Weidenfeld es formulierte, ist mit dem derzeitigen „Deutungsuniversum“ nicht geholfen. Es braucht eine verlässliche Orientierung. Damit sind wir bei der Botschaft Jesu im Evangelium dieses Sonntags:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Jesus bringt es auf den Punkt, was entscheidende Grundlage im Leben und für das Zusammenleben ist: Gottesliebe, Selbstliebe und Nächstenliebe. Er bringt es auf den Punkt, und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch mit seinem Tun.
Gott hat seine Liebe zu allen Menschen in Jesus Christus auf den Punkt gebracht. In der Art, wie Jesus anderen Menschen begegnete, wurde deutlich, dass Gott alle Menschen liebt. Diese Liebe erwartet unsere Antwort. Unsere Liebe zu Gott wird konkret, wenn auch wir anderen Menschen so begegnen, wie Jesus ihnen begegnet ist.
Was das Wirken Jesu auszeichnete, war sein Gespür für die Nöte der Menschen. Jesus ließ sich im wahrsten Sinne des Wortes berühren von der Not der Menschen. Und Jesus antwortete mit heilender Zuwendung. Ebenso sind wir heute Gott nahe, wo wir mit offenen Augen und offenem Herzen den Bedürftigen und Leidenden bewusst begegnen.
Einen anderen Menschen kann ich aber tatsächlich nur lieben und absichtslos annehmen, wenn ich mich selbst annehmen kann, wenn ich mir selbst gut bin; wenn ich um meine Stärken und Fähigkeiten weiß und dafür dankbar bin. Ebenso wenn ich um meine Grenzen und Schwächen weiß, und mir deshalb bewusst bin, dass ich zu meinem Glück auch andere brauche, die mir barmherzig und freundlich begegnen und mir so immer neu zum Glück des Lebens verhelfen. Dort aber, wo ich mich nicht annehmen kann, wie ich bin, wo ich anders, vielleicht besser oder mehr sein und gelten möchte, ständig unzufrieden bin, kann ich andere auch nicht so annehmen, wie sie sind, kann ich nicht mit ihnen im Frieden leben.
Bischof Huber schrieb in seinem Buch an der Wende zum 21. Jahrhundert: „Die Kirchen sind herausgefordert, den Menschen persönliche Gewissheit zu vermitteln und sich an der Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Leitbild zu beteiligen. Das christliche Glaubensangebot ist dabei neu verständlich zu machen.“
Deshalb kommt es für die Kirche in unserer Zeit darauf an, auf einem soliden theologischen Fundament zu stehen. Zugleich wird die Glaubwürdigkeit unserer Botschaft daran gemessen, wie wir den Glauben an den menschgewordenen Gott durch die praktizierte Nächstenliebe mit unseren sozialen und caritativen Diensten konkret bezeugen. Oder ob – im Gegensatz dazu – der weitgehende Erhalt der gängigen Strukturen einer sich selbst verwaltenden Kirche größeres Gewicht hat.
Vom heiligen Augustinus, der im vierten, fünften Jahrhundert lebte, ist das Wort überliefert: „Ama et quod vis fac!“ Zu Deutsch: „Liebe und tu, was du willst!“ Wir können den Satz in seiner Intention ergänzen: … und du wirst immer das Richtige, nie etwas Schlechtes tun!
In der Tat hatte der Glaube der frühen Christen werbende Kraft, weil er als praktizierte Liebe sichtbar wurde. In der Beziehung: Ich selbst, Gott und der Nächste kann Leben gelingen. Das ist wohl an den frühen Christen aufgefallen.
Unser Würzburger Bischof sagte im Blick auf die anstehenden Veränderungen: „Die Kirche darf nicht um sich selbst kreisen, sondern sie ist nach außen gesandt!“ Wichtig sei, zu hören, welche Fragen und Konflikte die Menschen beschäftigten. Auch gelte, es das Engagement für die am Rande stehenden Menschen zu stärken. Darum ist unserem Bischof die möglichst enge Vernetzung von Pastoral und Caritas so wichtig.
Bei einer Umfrage äußerte die Mehrheit der Deutschen, es sei ihnen egal, ob es zu Weihnachten Gottesdienste gibt oder nicht. Ebenso tun immer häufiger Menschen öffentlich kund, dass sie aus der Kirche austreten, oder dass sie kein Vertrauen mehr in die Kirche haben. Eine Vorstandsfrau einer großen deutschen Kapitalgesellschaft sagte mir in der vergangenen Woche, dass sie von ihrer Biografie her kirchlich sozialisiert sei, derzeit aber überlege aus der Kirche auszutreten. Was sie noch zurückhält, ist ihr Anliegen, den sozialen, caritativen Dienst unterstützen zu wollen.
In der Tat wird durch die Nähe und den konkreten, zupackenden, hilfreichen Dienst am Nächsten deutlich, dass wir die Menschen und ihre Nöte im Blick haben. Beruflich Qualifizierte und Ehrenamtliche wirken vielfach zusammen und bilden so das umfangreiche Netz der Hilfsmöglichkeiten der Kirche und ihrer Caritas. Es beginnt mit der Schwangerenberatung, den verschiedenen Angeboten in der Kinder-, Jugend-, Behinderten- und Altenhilfe, den weiteren Beratungsdiensten für unterschiedlichste Lebenssituationen bis hin zur Telefonseelsorge, der Armen- und Obdachlosenfürsorge, der Familienhilfe, der Migranten- und Integrationsarbeit und reicht bis zur Hospiz- und Trauerbegleitung. Daran werden wir gemessen bei der Frage, ob unsere Glaubensbotschaft und unsere Gottesdienste dem Auftrag Jesu entsprechen.
In diesem Sinne sagte Papst Franziskus, dass der Friede, den Jesus schenke, etwas anderes sei als das, was man gemeinhin unter Frieden versteht. Es sei ein Frieden, „der einen in Bewegung setzt und nicht isoliert“. Der Friede des Herrn bringe einen dazu, „zu den anderen zu gehen, Gemeinschaft zu schaffen, Kommunikation aufzubauen“.
Ob die Menschen um uns und die Generationen nach uns noch erkennen können, dass es sich bei der Lebensbotschaft Jesu und dem Gebot zur Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe um eine entscheidend wichtige Grundlage für ihr Leben handelt, die Antwort darauf hängt davon ab, ob sie durch uns davon erfahren.
Eine „Verfassungsviertelstunde“ soll es künftig einmal in der Woche an Bayerns Schulen geben, um den Schülern die freiheitliche-demokratische Grundordnung näherzubringen.
Der Gesetzeslehrer im Evangelium fragte nach dem wichtigsten Gebot. Um den Menschen unserer Zeit die Antwort Jesu mit dem Gebot zur Gottes- und Nächstenliebe nahezubringen, braucht es mehr als eine Viertelstunde pro Woche. Es braucht das gelebte Zeugnis in unserem Umgang miteinander. Es kommt darauf an, dass wir als Christen überzeugend handeln oder wie Papst Franziskus es in „Evangelium Gaudium“ ausdrückt: „Ich bin eine Mission ...“
Dann gelingt, was Bischof Huber als Aufgabe der Kirche beschrieb: „… den Menschen persönliche Gewissheit zu vermitteln und sich an der Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Leitbild zu beteiligen.“
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Dass so viele Leute
in unserer Zeit
in unseren Breiten
der Kirche den Rücken kehren
ist sicherlich
kein
Wunder.
Aber ist es nicht
ein Wunder,
dass so viele
trotz allem
fest in der Gemeinschaft der Glaubenden
stehen?
Dass so viele jammern
und keine Perspektive mehr sehen,
ist leider
kein
Wunder.
Aber ist es nicht
ein Wunder,
dass es Menschen gibt,
die den Raum ihres Zeltes weit machen
und wildfremden Menschen
Hoffnung schenken?
(nach Lothar Zenetti)