Die Predigt im Wortlaut:
- „Ökoterroristen“ – so war in der Überschrift einer der großen Tageszeitungen zu lesen. Militante Umweltaktivisten haben die Produktion eines Autohersteller lahmgelegt.
Weitere Meldungen in den Nachrichten der vergangenen Tage waren:
- Die „3. Generation der RAF“ wird als besonders gefährlich eingestuft. Die Medien berichten derzeit über die intensive Fahndung nach deren Mitgliedern – in Berlin und an vielen Orten der Republik. Gestern, am Samstag, sind hunderte Sympathisanten auf die Straße gegangen und haben gegen den „Staatsterrorismus“ protestiert.
- Einzelne Bauern blockierten Straßen mit Mist, wodurch Unfälle verursacht wurden. Auch davon wurde in den vergangenen Tagen berichtet.
- Trotz eines zugegebenen „Denkfehlers“ bei der Bewertung des Angebots der Arbeitgeberseite in den Tarifverhandlungen hielt die Gewerkschaft der Lokomotivführer an ihrem Streik fest.
- Der Streik des Beschäftigten in der Luftfahrt geht ebenso weiter.
- Ein Landrat erzählte mir vor wenigen Tagen von den schwierigen Herausforderungen, denen er gegenübersteht im Blick auf Proteste wegen der Krankenhaussituation in seinem Bereich und der Notwendigkeit der Unterbringung von Menschen mit Fluchterfahrung. Wörtlich sagte er: „Es ist kaum mehr ein sachliches Gespräch möglich. Aggressive Diktion und Lautstärke sind vorherrschend.“
- Es ist nicht verwunderlich, dass ein zunehmend großer Teil der amtierenden Bürgermeister nicht mehr kandidieren will, weil sie angefeindet werden und frustriert sind. Eigeninteressen Einzelner und ganzer Bürgerinitiativen werden immer militanter vertreten. Sogar die Bauvorhaben von Kindergärten, Seniorentagesstätten, Einrichtungen für Behinderte werden bestritten, ganz zu schweigen von Überlegungen zu Gewerbe- oder Industriegebieten an manchen Orten oder zur Errichtung von Windrädern. Wohlgemerkt, dabei geht es mir um den Ton der Auseinandersetzung.
- Ein früherer „Querdenker“ fackelte das Auto eines Kitzinger Stadtrats ab und fast auch dessen Wohnung. Vor Gericht ließ der Angeklagte nun erklären, dass ihm die politische Haltung des Stadtrats nicht gepasst habe.
Wir können den Bogen noch weiter spannen. So frage ich mich nach der Sicht des Lebens, wenn publikumswirksame Aktionen zum Schutz von Tieren inszeniert werden oder wenn sich Aktivisten an Bäume ketten, um deren Erhalt kämpfen und wenn gleichzeitig jubelnder Applaus aufkommt und es als vorbildlich beschrieben wird, dass in Frankreich nun das Recht zur Abtreibung in die Verfassung geschrieben wurde. Ebenso nimmt die Zustimmung zur Sterbehilfe weiter zu. Welche Sicht von Leben herrscht bei uns vor?
Es geht – mehr als unsere Gesellschaft es wahrhaben will – um das Leben, auch bei der Art und Weise, wie miteinander umgegangen wird! Verantwortungsbewusstsein, Höflichkeit, gutes Benehmen wären wirklich ein Gewinn für das Zusammenleben. Vielleicht erinnern Sie sich noch, wie vor wenigen Jahren Höflichkeit, gutes Benehmen usw. als „Sekundärtugenden“ lächerlich gemacht und abgetan wurden.
Was muss noch alles passieren, damit mehr und mehr Menschen aufwachen und erkennen, dass das Zusammenleben in unserer Gesellschaft immer härter und unmenschlicher wird, dass es unter der menschlichen Würde ist, was uns täglich berichtet wird, wie protestiert und mit gegensätzlichen Meinungen umgegangen wird.
Ein Blick in die Geschichte zeigt uns: Wie viele Hochkulturen in der Geschichte der Menschheit haben einen erschreckenden Niedergang erlebt. Der Untergang hatte seine Wurzeln jeweils in der moralischen Dekadenz, die vorausging. Ein solches Beispiel wurde uns heute in der Lesung aus dem zweiten Buch der Chronik im Alten Testament zu Gehör gebracht. Immer wieder hatte Gott durch Propheten zur Einsicht gemahnt und gewarnt. Doch die Könige und der Großteil Judas kündigten Gott die Treue auf, verhöhnten die Boten Gottes, verachteten sein Wort. Und so kam es, dass sie innerlich jegliche Kraft verloren und deshalb auch äußerlich vor der Bedrohung fremder Mächte kapitulierten. Schließlich mussten sie fremden Herren dienen und für sie arbeiten.
Vor diesem Hintergrund – wohin also Gottlosigkeit und infolge davon Dekadenz führen – kann es nicht einfach nur bei ein wenig mehr Höflichkeit und gutem Benehmen bleiben, nein! Es muss vielmehr und vor allem um die Grundlage des Lebens und jeglichen Zusammenlebens gehen.
Deshalb ist es mehr als bedenklich, dass immer weniger Menschen in unserer Gesellschaft die Überzeugung haben, es sei wichtig, „festen Glauben und eine feste religiöse Bindung zu haben“. Für 80 Prozent der Menschen ist Deutschland ist Gott, der Glaube an und die Glaubenspraxis völlig irrelevant für ihr Leben. Ja, es muss nachdenklich stimmen, dass viele nicht erkennen, dass gute und verlässliche Umgangsformen ein geistiges und auch geistliches Fundament voraussetzen.
In der Geschichte des Volkes Israel wird deutlich, als das Volk sich wieder auf seinen Gott besann, konnte es erleben, dass Gott immer wieder seinem Volk hilft. Und dabei war letztlich sogar der persische, also der fremde König Kyrus ein Werkzeug Gottes. Durch ihn ebnete Gott seinem Volk den Weg wieder nach Jerusalem. Wenn wir heute also – oft mit Erschrecken – bei so vielen Ereignissen und Nachrichten fragen, wo soll das nur hinführen, dann sollte es spätestens jetzt dazu führen, dass wir nach der Wegweisung Gottes fragen.
Der Evangelist Johannes hat zwar festgehalten: „Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Taten waren böse.“ Aber wir haben auch gehört: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.“
Es kommt für uns also entscheidend auf die Grundlage an, die unser Leben und das Zusammenleben trägt. Wenn wir dabei von Werten sprechen, die wir dem Leben beimessen, und nach denen wir unser Leben gestalten, dann stehen diese Werte nicht im luftleeren Raum, nein! Sie sind vielmehr begründet und verwurzelt in der christlichen Botschaft und der sich daraus ableitenden Lebenshaltung.
Jesus sprach im Evangelium davon, dass der Menschensohn erhöht werden müsse. Das möchte ich so deuten, dass die Haltung Jesu, sein Blick für die Menschen, sein Einsatz bis zur letzten Konsequenz am Kreuz hochgehalten werden muss, denn die Haltung Jesu hebt den Menschen heraus über das Einerlei des Alltags. ER gibt ihm eine unendlich große Wertschätzung und Würde.
Es kann also ernsthaft nicht nur um gutes Benehmen und mehr Höflichkeit gehen. Es muss vor allem um die Grundhaltung im Leben gehen, um das Festhalten an der Wegweisung Gottes. Menschen, die wirklich an ihn glauben, die – bei aller menschlichen Begrenztheit – aus dem Glauben an ihn heraus ihr Leben gestalten, die gehen anders miteinander um, da ändert sich also auch der Umgang.
Das gilt auch für uns in der Kirche. Die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen gerade jetzt in den Diskussionen um erforderliche Veränderungen in der Kirche, sollte sich wohltuend und somit beispielgebend abheben von anderen Debatten in der Gesellschaft. Damit hängt auch unser Anspruch zusammen, wenn wir uns als Kirche um die Menschen annehmen, in dem wir soziale, caritative Dienste entfalten wie z.B. in Kindertagesstätten, in Einrichtungen der Jugendhilfe und für Behinderte, für Alte, Gebrechliche, Hilfs- und Pflegbedürftige, wie auch durch unser Engagement für Obdachlose oder Flüchtlinge, ebenso unser Angebot von diversen Beratungsstellen.
Damit stehen wir durchaus in Konkurrenz mit kommerziellen, gewinnorientierten Anbietern. Aber uns geht es nicht um Dumpingpreise. Uns liegt es auch an guten Rahmenbedingungen für die sozialen Dienste und an einer fairen Vergütung für die Mitarbeiter. Wir können nur über die Qualität überzeugen, sei es in der Kita, sei es in der Förderung behinderter oder beeinträchtigter Menschen, sei es in der Pflege. Es geht um die Wertschätzung für die Menschen und die Hoffnung, die wir im Einsatz bzw. im Umgang mit den Menschen verbreiten.
Unser berufliches wie auch ehrenamtliches Engagement ist getragen von der Überzeugung, dass wir damit den Auftrag Gottes zur Nächstenliebe erfüllen und Menschen zum Leben verhelfen wollen. Wir sehen nicht nur einzelne Dienste und Angebote, sondern auch ihre Vernetzung, d. h. wir fördern die gegenseitige Verantwortung über Generationen hinweg.
Kindertageseinrichtung und Schule können die grundlegenden und wichtigen Tugenden für das Zusammenleben nicht allein vermitteln. Es braucht für Kinder und Jugendliche vor allem die Erfahrung in der eigenen Familie, es braucht aber auch das soziale Umfeld in der Gemeinde. All diese Lebensbereiche – Familie und Gemeinde – werden von der Kirche, d. h. von den Christinnen und Christen, sie sind Kirche, geprägt.
Von daher ist die Kirche mit ihrem pastoralen, aber auch – ganz wichtig – mit ihrem sozialen Bemühen Kristallisationspunkt im Gemeinwesen und so ist sie prägend. So wird das Miteinander im Sozialraum der Menschen lebenswert. Deshalb engagieren wir uns auch im ländlichen Raum, wo kein kommerzieller Anbieter unterwegs ist, weil es nichts zu verdienen gibt.
Uns geht es um das Leben und die Zuversicht der Menschen.
Lothar Zenetti bringt es in seinem Gedicht, das er „Verheißung“ nennt, so auf den Punkt:
Menschen
die aus der Hoffnung leben
sehen weiter
Menschen
die aus der Liebe leben
sehen tiefer
Menschen
die aus dem Glauben leben
sehen alles
in einem anderen Licht.
Es kommt also zunächst auf den Glauben an Gott an, und daraus ergibt sich u.a. auch ein gutes Miteinander. Das muss aber erst wieder in unserer Gesellschaft bewusst werden. Die erschreckenden Berichte über die Art und Weise, wie in unserer Gesellschaft protestiert und miteinander umgegangen wird, machen deutlich, dass es auf die geistige Grundlage ankommt, auf der wir leben und das Miteinander gestalten. Die Lebensbotschaft Gottes in all dem Dunkel und den Unsicherheiten der Welt zu bezeugen – in Wort UND Tat – ist unsere Aufgabe!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de