Ein Mann mittleren Alters greift in den Korb seines Rollators und hievt einen Ordner auf die Theke. Darin behördliche Briefe, die in Klarsichtfolien abgeheftet sind. Er blättert bis zur Mitte des Ordners und wälzt mit beiden Händen den Stapel Papier um. Dann dreht er den Ordner um 180 Grad und sucht mit hellen, müden Augen den Blick der Sozialarbeiterin auf der anderen Seite.
Johanna Anken, pädagogische Leitung der Bahnhofsmission, fischt ein Blatt heraus und geht von der Küche zum Empfang, um es zu faxen. Sozialarbeiter werden unter anderem dazu ausgebildet, behördliche Briefe und das Sozialgesetzbuch besser nachzuvollziehen. Daraus schließen sie, ob und wenn ja, welche Ansprüche Menschen in Fragen von Rente, Sozialhilfe oder der Krankenversicherung haben.
Anken arbeitet seit neun Jahren in der Bahnhofsmission Würzburg. Hier versorgen Mitarbeiter wohnungslose, arme, sozial isolierte und kranke Menschen. Sie geben etwa Essen und Getränke an Besucher aus. Außerdem Decken, Schlafsäcke und Kleidung.
Gegen 14 Uhr schließt die Bahnhofsmission. Mitarbeiter nutzen die Zeit für eine Übergabe. Johanna Anken überprüft die Kasse. Ein- und Auszahlungen werden Cent-genau dokumentiert. Die Bahnhofsmission Würzburg kann sogenanntes Überbrückungsgeld ausgeben, zum Beispiel für Medikamente oder Fahrtickets. Sobald die betroffene Person wieder Geld auf dem Konto hat, zahlt sie diesen Vorschuss zurück. Die Mitarbeiter tauschen Informationen aus, zum Beispiel wenn ein Gast angekündigt hat, wiederzukommen, weil er oder sie Gesprächsbedarf hat.
Die letzte Anlaufstelle
„Wir sind die erste und letzte Anlaufstelle“, sagt Anken. Kernaufgaben seien, Menschen Schutz zu bieten, sie zu versorgen, Überbrückungshilfe zu leisten und sie weiterzuvermitteln. Und das 24 Stunden täglich. Die Anliegen sind vielfältig: Eine Person, die aus dem Gefängnis entlassen wurde, weiß nicht, wo sie in nächster Zeit leben soll. Oder ein Migrant, dessen Rucksack mitsamt seiner Dokumente gestohlen wurde, weiß nicht, wie er nachweisen kann, einen Aufenthaltstitel zu besitzen. Mitarbeiter nehmen sich Zeit für Einzelgespräche, beraten und vermitteln Betroffene weiter.
Letzte Anlaufstelle heißt: Menschen, für die niemand zuständig ist und für die sich auch niemand verantwortlich fühlt, bleiben der Bahnhofsmission verbunden. Zum Beispiel psychisch kranke Menschen, die sich gegen eine Behandlung entschieden haben. „Würde heißt auch, dass ich selbst entscheiden darf“, betont Anken. Sie könne nicht jede Entscheidung der Gäste nachempfinden, doch das akzeptiere sie.
Um 15 Uhr wird die Tür wieder geöffnet. Gäste kommen mit Koffer, Rucksack oder Tüte. Andere kommen nur mit dem, was sie am Körper tragen. Einige haben ungewaschene Hände oder ungekämmtes Haar. Viele sind gepflegt und gut gekleidet.
Unter den Gästen der Bahnhofsmission in Würzburg ist an diesem Nachmittag auch Martina T. Sie hat bis zu einem Reitunfall im Jahr 2021 als Reinigungskraft gearbeitet. Da das Pferd beim Sturz auf sie gefallen ist, hat die 54-Jährige viele Brüche erlitten. Seither hinkt sie. Die folgenden Lebensumstände – weniger Bewegungsfreiheit wegen ihrer Behinderung und Geldmangel wegen des Arbeitsplatzverlusts – stürzten sie in eine Depression. Heute ist sie gesellig, gewitzt und gesprächig. Doch zeitweise lebte sie verwahrlost und einsam.
Mit psychotherapeutischer Hilfe und einer rechtlichen Betreuung, die ihr dabei geholfen hat, Bürgergeld zu beantragen, hat sich Martina T. wieder aufgerappelt. Sie kommt gerne hierher, um sich mit Sozialarbeitern und Gästen zu unterhalten. Die Mitarbeiter beschreibt sie als kompetent und aufmerksam. „Die Bahnhofsmission muss unbedingt gelobt werden“, sagt sie. Hier fühle sie sich immer wohl und willkommen. Die Besuche sind ihr sogar 58 Euro im Monat wert. Davon kauft sie sich das Deutschlandticket, um von Zuhause herzufahren. „Das habe ich mir gegönnt“, sagt sie. Vor Ort gönnt sie sich dann noch gute Gespräche und Verpflegung.
Unter anderem bei Petra Elflein. Hinter der Theke ist immer etwas zu tun: Essen und Getränke ausgeben, die Spülmaschine ein- oder ausräumen, Geräte laden oder auch mal eine Brille saubermachen. Die Gymnasiallehrerin engagiert sich seit 2013 ehrenamtlich in der Bahnhofsmission. Sie hört gut und gerne zu: „Was mich überrascht, ist, dass die Leute hier ohne Filter mit dir reden“, sagt Elflein. Außerhalb ihres Ehrenamts erlebe sie viel Zurückhaltung in der Kommunikation. In der Bahnhofsmission ist das anders: „Ich komme aus meinem Reihenhaus in eine andere Welt. Eine Welt, in der die Leute einfach sein dürfen, wie sie sind.“
Über 65.000 Begegnungen
Im Jahr 2024 haben Menschen über 65.000 Mal Hilfe in der Bahnhofsmission Würzburg gesucht. Die Zahlen sind wegen der Covidpandemie, des Krieges in der Ukraine und der Inflation gestiegen. Immer öfter nutzen auch Frauen die Notübernachtungsstelle in der Bahnhofsmission. Sie ist Frauen und Kindern vorbehalten.
Wenn Menschen auf die Bahnhofsmission angewiesen sind, bedeutet das dann, dass der Staat versagt hat? Nein, sagt Leiterin Johanna Anken. Denn er könne gar nicht für jedes Einzelschicksal vorsorgen: „Das System braucht Grenzen, sonst bricht es zusammen.“ Die Bahnhofsmission füllt die Lücken, so gut es geht.
Benefizkonzert für die Bahnhofsmission
Ein Benefizkonzert für die Bahnhofsmission gibt das Deutsche Ärzteorchester am 8. April um 19.30 Uhr im Würzburger Dom. Gespielt werden Werke von Beethoven und Haydn. Tickets ab 10 Euro gibt es online unter www.okticket.de, bei der Caritas (Franziskanergasse 3), in der Dom-Info und bei der Bahnhofsmission oder an der Abendkasse.
Angelina Horosun | Würzburger katholisches Sonntagsblatt