Die Predigt im Wortlaut:
„Pflegenotstand“ herrscht in Deutschland! Aktuell sind fast fünf Millionen Menschen in unserem Land pflegebedürftig. Fast 4,2 Millionen Menschen werden zu Hause versorgt. Davon werden knapp 3,2 Millionen überwiegend durch Angehörige gepflegt. Über eine Million werden mit Unterstützung von oder vollständig durch ambulante Pflegedienste betreut. Rund 800 000 Menschen leben in vollstationären Einrichtungen.
Um eine dem eigentlichen Bedarf entsprechende Versorgung der pflegebedürftigen Menschen zu gewährleisten, fehlen aktuell über 200 000 Pflegekräfte. Im Blick auf den demografischen Wandel der Gesellschaft und die damit zum einen größer werdende Zahl als Pflegebedürftigen und andererseits geringere Anzahl an jungen Menschen, die in Zukunft für Pflegeberufe zur Verfügung stehen, sagen die Prognosen, dass 2030 rund 500 000 Pflegekräfte fehlen werden.
Von großer Bedeutung ist auch die Tatsache, dass die durchschnittliche Verweildauer einer ausgebildeten Kraft in der Altenpflege bei etwa 8,4 und in der Krankenpflege bei etwa 13,7 Jahren liegt. Zudem übt rund die Hälfte aller Pflegekräfte in ihren Beruf nur in Teilzeit aus.
Bedenklich ist außerdem, dass rund 25 Prozent aller Fachkräfte in der Pflege den Beruf wechseln möchten. Dabei werden Überbelastung und schlechte Bezahlung als Hauptgründe genannt. Die aktuellen Kampagnen mit Lockangeboten wie Sonderzahlungen bis hin zur kostenfreien Überlassung von E-Autos führen allenfalls zu einem Verdrängungswettbewerb.
Die Klage, dass sich viele Paare in unserem Land seit 40, 50 Jahren entschlossen haben, keine oder nur wenige Kinder haben zu wollen, verschafft dem entstandenen Mangel keine Abhilfe. Mit Sorge müssen wir eher in Diskussionen um aktive Sterbehilfe oder selbstbestimmten Suizid beobachten, wenn hier das Argument auftaucht, dass man aus angeblich humanitären Gründen bedenken sollte, wie lange man Menschen die Pflege zumuten könne.
Vor einiger Zeit war ich zu einem Tag der Pflege in einer unserer großen Senioreneinrichtungen. Beim Gespräch mit den jungen Menschen in der Ausbildung zur Pflegefachkraft fiel mir eine sehr sympathische junge Frau auf, die nach ihrem Abitur nicht an die Universität, sondern ins Pflegeheim ging. Auf meine Frage, wieso sie diese Entscheidung getroffen habe, obwohl sie hätte studieren können, und in dem jetzt angestrebten Beruf nicht unbedingt große gesellschaftliche Anerkennung erfahre, dazu die nicht gerade familienfreundlichen Arbeitszeiten sowie das manchmal sehr fordernde Verhalten der Angehörigen, warum sie also trotzdem in der Pflege arbeiten wolle, antwortete sie kurz und bündig: „Wegen der Leut‘!“ Anders gesagt: Weil mir die Menschen am Herzen liegen, will ich Ihnen auch im Alter zu einem menschenwürdigen und zufriedenen Leben verhelfen!
Ich weiß nicht, wie ausgeprägt der christliche Glaube in der jungen Frau lebt, aber ihre Antwort ist getragen von der Sympathie und dem Interesse an den Menschen. Eine solche Einstellung ist zutiefst christlich. Genau durch diese Haltung und diesen Umgang mit der Not der Menschen, durch ihre Zuwendung zu den Schwachen fielen die Christen von Anfang an auf. Mit ihrem Tun gaben sie Zeugnis für die Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit Gottes.
Der unvergessliche Malerpfarrer Sieger Köder hat in einem seiner unzähligen Bilder zur Bibel die Szene der Fußwaschung dargestellt. In dem dunklen, erdfarbenen Raum ist im Hintergrund in helles Licht getaucht das geteilte Brot und der Kelch zu sehen, Davor, ebenfalls in hellem Licht eine Gestalt, die niederkniet und sich zu den Füßen in der Waschschüssel hinabbeugt. Auf dem Hocker sitzend Petrus, der das Tun nicht versteht und versucht abzuwehren.
Von Jesus ist also nur seine Haltung zu sehen, wie er sich vor Petrus niederkniet und ihm die Füße wäscht. Sieger Köder aber hat in die Waschschüssel das Gesicht von Jesus gemalt, das sich im Wasser spiegelt. Als ich das Bild einmal im Religionsunterricht einsetzte, rief ein kleiner Junge: „Jesus in der Waschschüssel!“
Sieger Köder stellt in seinem Gemälde den Zusammenhang zwischen Eucharistie und Diakonie, also zwischen Communio mit Jesus und untereinander und dem sozialen-caritativen Dienst her. Das eine hat mit dem anderen wesentlich zu tun.
Daran hat auch Papst Benedikt in seinem ersten großen Schreiben nach seiner Wahl im Jahr 2005 „Deus caritas est“, „Gott ist die Liebe“ hingewiesen: „Das Wesen der Kirche drückt sich in einem dreifachen Auftrag aus: Verkündigung von Gottes Wort, Feier der Sakramente und Dienst der Liebe. Es sind Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen und sich nicht voneinander trennen lassen. Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst.“
Die Communio, zu Deutsch Gemeinschaft, mit dem Auferstandenen und durch IHN mit Gott und untereinander wächst in der Feier eucharistischen Mahles und im Dienst am Nächsten. Für beides gilt der Auftrag Jesu: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“
Während die Kirche bzw. einzelne kirchliche Akteure eher ein fragwürdiges Bild von Kirche abgeben mit ihrem Gebaren – sei es im pastoralen Tun oder mit ihren nicht immer nachvollziehbaren geschäftsmäßigen kirchlichen Engagements, erfährt Kirche andererseits Anerkennung, wo sie klar und eindeutig für das Leben eintritt. So stand kürzlich in einem Interview auf die Kritik hin, warum eine Kommune bei der Betreuung von Flüchtlingen und Asylbewerber mit der Caritas zusammenarbeite, zu lesen: „Man kann über die katholische Kirche denken, wie man will: Die Caritas ist in der Flüchtlingsarbeit seit Jahren stark, nimmt das Thema ernst, nimmt sich um die Menschen an und schult seit längerem Ehrenamtliche. … Als Kommune könnten wir dies auch gar nicht alleine stemmen.“
Und wenige Tage vorher stand ein Bericht im Blick auf das kirchliche Engagement für Kindergärten zu lesen mit der Überschrift: „Ein wertvoller Beitrag für das Gemeinwesen!“
Wie anders dagegen all die Schlagzeilen, die wir täglich lesen müssen, die von einem Verhalten berichten, das nur auf Gewinnmaximierung aus ist und deshalb keine Rücksicht auf Menschen nimmt, wo gnadenlos Geld gemacht wird. Aktuell erleben wir, dass ein bundesweit agierendes Pflegegroßunternehmen für eine Einrichtung in Ochsenfurt Insolvenz beantragt hat und unter skandalösen Umständen das Pflegeheim Fuchsenmühle in Ochsenfurt binnen weniger Wochen schließt. Pflegekräfte werden um die ihnen zustehenden Gehalts-, Urlaubs- und Überstundenansprüche gebracht sowie Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen die Rückzahlung von bereits entrichteten Heimkosten verweigert. Zugleich setzt der Betreiber sein Geschäftsmodell ohne Einschränkungen fort und will in der Nähe eine neue Pflegeeinrichtung unter einer neu gegründeten örtlichen GmbH fortsetzen. Es geht also nicht um mitmenschliche Solidarität und Bereitschaft zum Dienst an hilfs- und pflegebedürftigen Menschen. Die Not von Menschen wird zum gewinnbringenden Geschäftsmodell umfunktioniert.
Der Einsatz für die Menschen und das Leben dagegen gibt Zeugnis für die Frohe Botschaft und den Auftrag Jesus zum Dienst am Nächsten. So wie Jesus nur in der Spiegelung der Waschschüssel zu sehen ist, so sind wir als Kirche nur dann als seine Nachfolger zu erkennen, wenn wir seinem Auftrag folgen und dem Leben dienen.
Das tun wir aber nicht aus eigener Kraft, sondern ER selbst stärkt uns dazu mit seinem Beispiel, das ER gibt, und in der Communio, in der ER sich uns einverleibt. Alles Tun der Christen wie der Kirche bliebe nur geschäftsmäßig, wenn es nicht aus der herzlichen Verbindung zu IHM heraus geschieht. Deswegen sind Eucharistie und Dienst am Nächsten unverzichtbar. Beides gehört zusammen.
Der frühere Bischof von Évreux in Frankreich, Jacques Gaillot, schrieb das sehr lesenswerte Buch: „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts!“
An unserer Bereitschaft zum Dienst am Leben werden wir gemessen und daran liest die Welt die Wahrheit des Evangeliums ab. Und immer dann, wenn die Kirche das vergessen hat, fiel sie auf die Nase – zuletzt bei der Säkularisation 1803. Damals wollten viele kirchliche Akteure nicht wahrhaben, dass sich ihre Situation entscheidend verändern wird. Schneller als sie dachten, waren sie alle ihre Ämter, Titel, Pfründe los und verloren riesige Besitztümer.
Dass hundert Jahre später die Kirche in einer unerwarteten Blüte stand, war deshalb möglich, weil sie im 19. Jahrhundert die soziale Frage und darin ihren Auftrag entdeckte.
Vieles, was sich heute an kirchlicher Selbstbeschäftigung abspielt – und das beileibe nicht nur in den Ordinariaten, sondern auch in den immer mehr in sich gekehrten Pfarreien – erinnert in manchem an die Geschichte von damals.
Der Dienst am Nächsten ist der Maßstab für die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung. Das Bild von Sieger Köder macht es anschaulich: Durch das Mahl mit Jesus und in seinem Dienst kommt Licht in die vielfach dunkle Welt. Petrus scheint es langsam zu begreifen. Mit einer Hand wehrt er zwar noch ab, aber mit der anderen hält er sich an Jesus fest und so mischen sich in seine erdfarbene Gestalt erste helle Farbtöne. Er scheint zu begreifen, auch wenn er sich noch wehrt, weil er vielleicht Angst hat vor der Konsequenz, nämlich ebenso wie Jesus dienen zu müssen.
Wenn das Miteinander der Menschen wieder von dieser Haltung bestimmt ist, dann wird auch der sogenannte „Pflegenotstand“ im Sinne der Menschen gemeistert werden können.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Fußwaschung
Jesus zeigt, wie weit er in seiner Liebe geht.
Diesen Dienst hatten sonst nur
heidnische Sklaven zu tun.
Doch Jesus wollte damit Beispiel sein,
einander in Liebe zu dienen:
Nächstenliebe in Tat umgesetzt.
Vielleicht hatte Petrus Angst davor,
dieses Beispiel nachahmen zu müssen.
Auch wenn wir oft schwach oder feige sind
– wie Petrus, dennoch liebt uns Jesus.
Er wäscht uns die Füße!
Doch darin ist – bis heute – die Bitte enthalten,
das Gleiche zu tun.
Weil Jesus uns geliebt hat,
können wir seine Liebe weitergeben,
damit auch wir Gemeinschaft mit Jesus haben.
(Autor unbekannt)