Die Predigt im Wortlaut:
„Als ob die Welt Feuer gefangen hätte“, so lautete die in dicken Lettern gedruckte Überschrift in der ZEIT vom 17. April 2019. In einem ganzseitigen Artikel wurde über die in Flammen stehende Kathedrale „Notre Dame“ in Paris berichtet. „Auch die Pariser, die sonst die Kirche ignorierten, fanden sich in gemeinsamer Trauer ein.“ Die Bilder von der brennenden Kathedrale, schockierten und lösten Bestürzung aus nicht nur in Paris und Frankreich, sondern in ganz Europa und der Welt. Mit Blick auf die zum Himmel aufschlagenden Flammen summten und sangen die Menschen Marienlieder, wie in den Fernsehberichten zu sehen und zu hören war. „Notre Dame“ – die geistliche Mitte in einer um sie herum pulsierenden laizistischen Weltstadt. Eine Woche später war ebenfalls in der ZEIT zu lesen: „Dome, Kathedralen, Kirchen und Kapellen künden vom Bedürfnis des Menschen, sich selbst zu übersteigen. Deshalb schmerzt ihr Verlust ganz besonders.“
Ein Beispiel aus Deutschland: „Liebfrauen“ – so heißt die Kirche mitten in der Innenstadt von Frankfurt, nur wenige Schritte von den gigantischen Bankzentralen und den luxuriösen Einkaufsmeilen entfernt.
„Liebfrauen“ – ein bemerkenswerter Ort! Dort gibt es nichts zu kaufen und dennoch zieht dieser Ort täglich unvorstellbar viele Menschen an. Die einen wollen im Schein einer kleinen Kerze, die sie entzünden, eine Last, eine Sorge, eine Bitte loswerden im Vertrauen, dass Gott sie erhört. Andere schreiben ihr Anliegen in ein großes Fürbittbuch. Wieder andere nehmen das Gesprächsangebot wahr.
„Liebfrauen“ – das ist auch der Treffpunkt für unzählige Obdachlose, die dort bei den Kapuzinern und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen Platz finden, wo sie erzählen können, man ihnen zuhört und wo sie bewirtet werden. Sie werden nicht gefragt, warum sie in diese Situation geraten sind. Zunächst spüren diese Menschen einfach, dass sie willkommen sind. Wenn sich bei weiteren Besuchen der Kontakt vertieft, wenn sie merken, dass sie angenommen und ernstgenommen werden, dann öffnen sie sich und teilen sich mit, schildern ihre Situation, ihr Schicksal, auch ihre Abstürze.
Als zwei Monate nach dem Brand von „Notre Dame“ in Paris am 16. Juni 2019 in Frankfurt „Liebfrauen“ nach der umfangreichen Generalsanierung wieder eröffnet und der neue Altar konsekriert wurde, sagte der Limburger Bischof Georg Bätzing in seiner Predigt: „Was ‚Notre Dame‘ für Paris, ist ‚Liebfrauen‘ für Frankfurt!“ Darauf spendeten die in der dicht gefüllten Kirche versammelten Menschen tosenden Applaus. Die spontane Reaktion war für mich verständlich, denn die Menschen brauchen – auch in einer Weltstadt – eine geistlichen Ort. Das wurde mir nach dem Eröffnungsgottesdienst bei zahlreichen Gesprächen deutlich.
„Notre Dame“ und „Liebfrauen“ – zwei Beispiele, die deutlich machen, dass viele Menschen einen Ort brauchen, an dem sie sich orientieren, wohin sie gehen können, gerade dann, wenn sie nicht mehr weiterwissen, wenn ihre Kraft nachlässt oder sie vielleicht nirgends mehr ankommen, nirgends mehr angenommen werden. Wo haben die Menschen in unseren Städten und Dörfern noch eine gute Adresse?
Es wird in Zukunft mehr und mehr Menschen geben, die das Tempo unserer Zeit nicht mehr mitgehen können, die zu den „Fortschrittsverlierern“ gehören oder die durch das soziale Netz fallen. Sie sind dem Leistungsdruck unserer Zeit nicht gewachsen oder sind vermeintlich überflüssig geworden, fühlen sich abgeschoben oder haben eine schlimme Enttäuschung nicht verkraftet. Manche fragen sich, ob sie je gewollt und geliebt waren. Mehr Menschen als wir denken brauchen Zufluchtsorte.
Viele solcher Zufluchtsorte laden die Menschen ein, zu kommen, auszuruhen, aufzuschnaufen. Ein solcher Zufluchtsort ist auch die Vogelsburg mit ihrer weithin sichtbaren Kirche „Zu Unserer Lieben Frau“ – „Mariä Schutz“.
Die Kirche, das Anliegenbuch, die Möglichkeit eine Kerze anzuzünden – all das sind Zeichen, dass wir eingeladen sind, dass wir – was immer uns bewegt – in „Mariä Schutz“ einen Platz haben und „Unsere Liebe Frau“ für uns Fürbitterin bei Gott ist.
Es sind bei weitem nicht nur Menschen, die materielle Armut niederdrückt, die diese Kirchen aufsuchen. Deshalb komme ich nochmals zurück auf den besonderen Ort mitten in der City der Finanzmetropole Frankfurt. Es ist interessant, dass der Zugang zu „Liebfrauen“ durch ein Tor führt, durch das ich in den Innenhof komme, und von dem aus ich nach links in den sogenannten „Franziskustreff“ für die Obdachlosen und nach rechts in die Kirche gehen kann. Gerade in der Mittagszeit kommen viele Menschen – oft in beste Stoffe modisch gekleidet. Sie kommen aus den großen Bankentürmen, den Zentralen der Geldwirtschaft oder der dort angesiedelten Konzerne und verbringen die Mittagszeit nicht in einem der nahegelegenen Edelrestaurants, sondern in „Liebfrauen“, weil sie Stille oder ein Gesprächsangebot suchen. Deshalb herrscht um diese Zeit starker Andrang auf die vielen Sprechzimmer in der Kirche. Materiell oft bestens ausgestattete Menschen suchen Rat, Orientierung, fühlen sich innerlich vielleicht leer oder gar arm. Zur gleichen Zeit genießen die Obdachlosen gegenüber das für sie vorbereitete Mittagessen im „Franziskustreff“.
Ähnliches erleben wir hier: Manche kommen auf die Vogelsburg, um in der Kirche über der Mainschleife, ihre Bitten, aber auch ihren Dank vor Gott zu bringen. Andere kommen zufällig hierher, und nutzen den Besuch in der Gaststätte spontan zum Besuch der Kirche.
In der Lesung zum Fest „Unserer Lieben Frau“ aus dem Buch Sacharja heißt es: „Juble und freue dich, Tochter Zion; denn siehe, ich komme und wohne in deiner Mitte.“ Der Prophet bestärkt das Vertrauen, dass Gott bei den Menschen sein will. Darauf kommt es in „Notre Dame“, in „Liebfrauen“ und an unzähligen Orten wie „Maria Schutz“ auf der Vogelsburg an, dass die Menschen spüren, dass nicht nur das Tor, sondern das Herz offensteht.
Vom heiligen Augustinus wird erzählt, dass eines Tages ein Diakon, also einer, dessen Beruf es ist, Menschen in schwierigen Lebenslagen zu helfen, zu ihm gekommen sei und geklagt habe, dass er mit seinen pastoralen Bemühungen nichts ausrichte. Die Leute seien einfach nicht ansprechbar und wüssten nichts vom Glauben. Er ist total frustriert und will Schluss machen mit seinen Bemühungen. Da gibt ihm der heilige Augustinus den wichtigen Rat, die Leute in sein Herz zu schließen.
Wer den Menschen sein Herz öffnet, erweist sich als Bruder und Schwester Jesu. Das ist die Botschaft des bei der Feier des Patroziniums heute verkündeten Evangeliums: „Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“
Wir können noch so toll formulierte, theologisch kluge „pastorale Standards“ benennen, noch so viel unternehmen, Aktionen organisieren und Hilfsangebote auf unsere Fahnen schreiben, wir können noch so viele Appelle verfassen: „Ihr müsst, ihr sollt …!“ – Man kann Liebe und Barmherzigkeit nicht verordnen, sie stellen sich nicht auf Kommando ein.
Ich kann noch so viel tun, aber ich werde den Menschen und ihren unterschiedlichen Nöten, ihrer jeweiligen Armut nicht gerecht, wenn ich sie nur als Objekte meiner Dienstleistung sehe und nicht wirklich mit ihnen fühle. Ohne Empathie für sie ist alles, was ich mache, letztlich hohl und leer.
Es geht darum, dass alles, was wir tun, nur wirksam ist, wenn es von Gott ausgeht. Es geht nicht darum, hervorzuheben, was für ein toller Mensch ich bin, was ich alles mache. Es muss vielmehr deutlich werden, dass Gott uns zuerst geliebt hat, und wir deswegen fähig sind, einander anzunehmen, zu verzeihen, zu lieben. „Gott fordert von uns (zunächst) nicht Liebe, er fördert sie allenfalls in uns“, habe ich dieser Tage gelesen.
Man braucht also nicht immer wieder neue Aktionen zu starten, viel wichtiger ist es, einfach SEINE Liebe weiterzugeben – ob nun in der Sorge um die Menschen, die gerne ein Gesprächs- oder Gottesdienstangebot annehmen wie z.B. in „Notre Dame“, wenn die Kirche am 8. Dezember wieder eröffnet wird. Ebenso wird SEINE Liebe erfahrbar für die Menschen, die dankbar das annehmen, was im „Franziskustreff“ in Frankfurt für sie zubereitet wurde und die Tischgemeinschaft genießen. SEINE Liebe wird auch spürbar für die Menschen, die mitten im Stress des Alltags die Stille suchen oder ein offenes Ohr finden in ihren Nöten und Ratlosigkeiten. Oft genügt einfach eine offene Tür zu einem Ort der Ruhe und der Einkehr.
Bei aller Säkularität hat sich gerade bei „Notre Dame“ in Paris gezeigt, dass nicht das technische Kunstwerk des Eifelturms, sondern „Notre Dame“ für die Menschen ein wichtiger Blickpunkt ist. Unzählige empfanden es so wie in der Überschrift des Berichtes in der ZEIT formuliert: „Als ob die Welt Feuer gefangen hätte.“ Die Menschen waren und sind in ihrem Innersten berührt. Alles, was wir brauchen, was jeder Mensch nötig hat – ob in der Stadt oder auf dem Dorf, ob in einer Limousine oder am Straßenrand –, ist die Zuneigung unseres Gottes.
Manchmal genügt ein aufmerksamer Blick, ein freundliches Wort, eine zärtliche Geste, eine ehrliche, eine herzliche Umarmung oder einfach eine Tasse Kaffee. Unsere Welt braucht Orte wie „Notre Dame“, wie „Liebfrauen“ oder wie die Vogelsburg. Sie sind ein Stück „Heil – Land“, das wir in Zukunft in unserer unruhigen und unsicheren Welt noch mehr brauchen werden. Der Kommentator schrieb in der ZEIT: „Dome, Kathedralen, Kirchen und Kapellen künden vom Bedürfnis des Menschen, sich selbst zu übersteigen.“
Die Vogelsburg ist ein solcher Ort!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
An einem Wallfahrtsort ist dieser Gedanke zu lesen:
das lächeln
das du aussendest
kehrt zu dir zurück
die fröhlichkeit, die
du verbreitest
steckt an geht auf die andern über
der humor
den du ausstrahlst
bestimmt die atmosphäre
deiner umgebung
der Frieden
der von dir ausgeht
den du anderen wünschst
bestimmt dein leben
deine Welt
deine kleine Welt
die hand
die du anderen reichst
wärmt und hält
lässt lächeln
fröhlich sein
schenkt Geborgenheit
und Frieden
(Autor unbekannt)
Genau daran erinnert die Gottesmutter und viele der Orte,
die nach ihr benannt sind, wie z.B. hier auf der Vogelsburg.
– Überall brauchen wir solche Orte!