Die Predigt im Wortlaut:
„Es gärte in Deutschland“, so war einer der vielen Artikel und Kommentare zum 175. Jahrestag der ersten deutschen Nationalversammlung am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche überschrieben. „Der Weg zur Nationalversammlung im Jahr 1848 war steinig…“ bis Ende März 1848 das Vorparlament entschied, die Mitglieder der Deutschen Nationalversammlung nach einem allgemeinen und gleichen Mehrheitswahlrecht von Volljährigen, wählen zu lassen – allerdings nur von „selbständigen“ Männern. Die Versammlung hatte das Ziel, eine neue Verfassung für ganz Deutschland zu entwerfen.
„Es gärte in Deutschland“ – dazu nur einige Stichpunkte: Studenten begehrten auf, ebenso Teile des Bürgertums und auch einfache Schichten. „Es sind unruhige Zeiten in Europa“, heißt es im Artikel. „Die Franzosen waren in der Julirevolution 1830 gegen die restaurative Politik auf die Barrikaden gegangen, und auch in Deutschland brodelt es.“
Die Menschen erlebten in diesen Jahren schwere Wirtschaftskrisen, soziale Umwälzungen, Hungersnöte. Die politische Empörung war gewaltig angewachsen. Es kam z.B. zum Aufstand der Weber. An „Proletarier“ gerichtete Flugblätter kamen in Umlauf. Sie enthielten radikal-demokratische Parolen und forderten neben Pressefreiheit, Gewissens-, Lehr- und Glaubensfreiheit ebenso die Abschaffung aller Vorrechte.
So machte sich am 18. Mai 1848 die Nationalversammlung in der Paulskirche ans große Werk für Einigkeit und Recht und Freiheit. Das nach dem Völkerapostel Paulus benannte erst am 9. Juni 1833 geweihte evangelische Gotteshaus erwies sich als idealer Versammlungsort. Das über der Kirche hoch aufragende Kreuz störte niemanden – im Gegenteil.
Eines der Mitglieder der Nationalversammlung war Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler. Zunächst war er Jurist und Staatswissenschaftler, quittierte aber aus Protest den Staatsdienst und studierte Theologie. Nach seiner Priesterweise am 1. Juli 1844 kam er als Kaplan mit vielfältigen sozialen Problemen in Berührung, regte den Bau eines Krankenhauses für die unteren Schichten an. Er setzte sich unermüdlich für die Linderung des Elends infolge von Armut, Krankheit und mangelnder Ausbildung ein. Die Jahre als „Bauernpastor“, wie er genannt wurde, haben Ketteler entscheidend geprägt.
Sein Mandat als Mitglied der Nationalversammlung gab er bald wieder zurück, weil er zunächst zum Probst von St. Hedwig und kurz darauf zum Bischof von Mainz gewählt wurde.
In dieser Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts, als es überall in Deutschland gärte, kam der junge Kaplan Adolf Kolping in Berührung mit der Arbeiterschaft, insbesondere mit Gesellen und Lehrlingen, die vielfach einer schwierigen sozialen Situation ausgesetzt waren. Das Leben vieler in der Erwerbsarbeit war gekennzeichnet von tiefer Armut, sklavischer Ausbeutung und Verelendung. Dazu kamen eine geistige Verwahrlosung und Apathie und es entstand ein Milieu, das kaum Hoffnung auf ein sinnerfülltes Leben gab.
Ketteler und Kolping sollen an dieser Stelle als Beispiele genügen, um anzudeuten, dass sich gerade in Zeiten, in denen es in der Gesellschaft gärte, Christen aus ihrem Glauben heraus für das Leben und damit für die Gesellschaft insgesamt engagierten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden an vielen Orten durch das Engagement von beherzten Christen soziale und caritative Initiativen, Aktionen und schließlich Vereine. Das alles führte schließlich zu der großen und wegweisenden Sozial-Enzyklika von Leo XIII., der deshalb auch „Arbeiter-Papst“ genannt wurde. Er nahm darin Stellung zu den radikalen Veränderungen auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet, besonders in Wissenschaft und Technik. Diese führten auch zur Spaltung in der Gesellschaft.
„Es gärte in Deutschland“, so die Überschrift eines der Artikel zum 18. Mai. Könnten wir dem nicht einen aktuellen Artikel hinzufügen „Es gärt in Deutschland“? Wir erleben die Aktionen der „Letzten Generation“, die Bewegung vor allem junger Menschen mit „Friday for future“, die immer neuen Parolen der „Querdenker“, die Umtriebe der „Reichsbürger“, die Randale der Hausbesetzerszene, die politische kontroverse Diskussionen um das „Heizungsgesetz“ und die „Atomenergie“. Dazu kommen die außenpolitischen Spannungen u.a. mit den Fragen zur Unterstützung der Ukraine, dem Umgang mit China, der Bewertung der Vorgänge in der Türkei, um nur einige Beispiele zu nennen.
Außerdem drängen die ethischen Fragestellen wie z.B. der Lebensschutz, die Sterbehilfe, der assistierte Suizid, die Neu-Definition von Familie, von Elternschaft, von Selbstbestimmung des Geschlechts usw. Dazu kommt ein immer stärker sich ausweitendes Denunziantentum auf allen gesellschaftlichen Ebenen, das in vielen Fällen anderen einfach nur schaden will.
Ja, „es gärt in Deutschland“ und die Medien verunsichern oder kommentieren oft einseitig. Doch was – wenn wir an die genannten Beispiele mit Ketteler, Kolping, Leo XIII. und die vielen im Blick auf konkrete Nöte entstandenen caritativen Initiativen denken – was setzen wir Christen heute den besorgniserregenden Entwicklungen entgegen?
Deshalb möchte ich unsere Aufmerksamkeit auf die biblische Botschaft des 7. Ostersonntags lenken: In seinem Gebet, das wir im Evangelium gehört haben, spricht Jesus aus, was uns Leben verheißt: „Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast.“ Zu dieser Erkenntnis finden wir aber nur durch das Hören auf IHN und das Festhalten an SEINEM Wort. Allerdings wird in unseren Tagen die Bedeutung des Sonntags mehr und mehr ausgehöhlt, allenfalls der soziale Aspekt betont, kaum der religiöse. Zudem wird der Religionsunterricht in Frage gestellt. Doch das Tun der Christen, ihr Beitrag zur Gestaltung des Miteinanders war deshalb glaubwürdig und prägend, weil es aus der Kraft seines Geistes wirkte und an der Gottes- und Christusverehrung festhielt.
In diesem Zusammenhang ist der Bericht aus der Apostelgeschichte, den wir in der Lesung gehört haben, wichtig. Von der ganz unterschiedlichen Schar seiner Nachfolger heißt es, dass sie sich versammelten: „Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern.“
Communio, Gemeinschaft, ist also ein wesentliches Charakteristikum des Christseins und zwar in allen Zeiten.
Die kleine Schar, die erwähnt wurde, wurde nicht als kümmerlicher Rest erlebt. Im Zusammenhang mit der ersten Gemeinde taucht mehrmals das Wort auf: einmütig, also EINES Mutes. Ohne Mut, ohne Courage wären die ersten Christen schnell am Ende gewesen. Dieser eine Mut nährt sich von einer ganz besonderen Kraftquelle, nämlich dem Gebet.
Regelmäßig kommen die ersten Christen zusammen. Nicht um endlos zu debattieren. Nicht um irgendwelche Überlebensstrategien zu schmieden. Schlicht und ergreifend: sie kommen zusammen, um Mahl zu halten. Sie lesen dabei aus den heiligen Schriften, bedenken die Bedeutung des Wortes für ihren Alltag und beten miteinander. Darin liegt das Geheimnis des kraftvollen Anfangs. Sie erfüllen den Auftrag Jesu: „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“
Ohne Sammlung und Versammlung wäre kein Zusammenhalt möglich gewesen. Ganz selbstverständlich gehören die Frauen dazu, vor allem Maria. Gemeinsam wächst im Gebet eine Verbundenheit, in die hinein dann der Geist an Pfingsten wirken kann. Dabei ist nicht die Menge des Gebets entscheidend, sondern die Konzentration.
Wir Menschen sind von Gott und auf Gott hin geschaffen. In seiner Gegenwart und durch seinen Geist werden wir erst wirklich und ganz Mensch. Dann können wir Christen einen wichtigen Beitrag leisten, um mitzubauen an einer menschlichen, gerechten und solidarischen Welt, an Frieden und Versöhnung unter den Völkern. Doch tun wir das auch wirklich? Welche Themen stehen auf der Tagesordnung der kirchlichen Gremien? Welches Tun christlicher Gruppen und Kreise werden mit kirchlichen Mitteln unterstützt und gefördert?
Wenn ich mir die Bilder anschaue und die Transparente lese, die die Erneuerung unserer Kirche anmahnen, dann frage ich mich: Wo ist da etwas von Themen zu lesen, die derzeit in unserer Gesellschaft gären? Wo geht es um die Stärkung der Communio im Gebet, das Kraftschöpfen in der gemeinsamen Feier der Messe durch das Hören auf Gottes Wort und die Feier der Eucharistie?
Deshalb sollte unsere Bitte gerade jetzt in den Tagen vor Pfingsten sein, dass Gottes Geist uns Christen Tag für Tag erneuern und stärken möge, damit wir lebendige Kirche sind, damit die Menschen unserer Zeit durch uns erleben können, wie durch die Kraft des Glaubens eine lebenswerte Gemeinschaft wächst und sich Hoffnung in den Herzen der Menschen ausbreitet. Und genau deshalb kommen wir Christen Sonntag für Sonntag zusammen, um uns zu orientieren und senden zu lassen, um die Botschaft unter die Menschen zu bringen, und zwar nicht durch Instruktion, sondern durch Kommunikation.
Ich erinnere nochmals an den 18. Mai 1848: Ein wichtiger Auftrag an die Nationalversammlung war die Erarbeitung einer Verfassung, und das in einer Kirche die nach dem Völkerapostel Paulus benannt war und unter dem Zeichen des Kreuzes stand. Welche Zeichen setzen wir heute?
Wir finden unser wahres Menschsein in dem Maße, wie wir uns dem Geheimnis Gottes öffnen und ihn als Ursprung und Mitte, als Grund allen Lebens und aller Menschlichkeit erkennen und bezeugen.
Dabei hilft, was ich in einem Gebet gelesen habe:
„Eines brauche ich, und darum bitte ich dich, Herr:
Eine Handvoll Menschen, die mein Glauben und Hoffen teilen,
eine Handvoll Menschen, die immer wieder zusammenkommen,
versammelt sind in deinem Namen und aus deiner Botschaft leben
und immer wieder neu erfahren, dass du, Gott, mitten unter uns bist;
dass dein Sohn unser Bruder ist und dass dein Geist in uns und mit uns und durch uns
– lebendig ist!“
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Du erkennst deine Kirche
an denen, die
dich loben
füreinander einstehen
sich selbst vergessen
an dir festhalten
sich hingeben
über die Welt hinaus hoffen
Widerstand leisten
sich nicht verführen lassen
Salz sind für die Erde
um die Einheit kämpfen
sich behüten und bewahren lassen
um selbst zu hüten und zu bewahren.
Du erkennst deine Kirche an
den Liebenden.
(Autor unbekannt)