Die Predigt im Wortlaut:
Die Werbebranche hat sich längst zu einem gigantischen Industriezweig entwickelt. Mit einem ansprechenden, auf einzelne Schichten und Gruppen ausgerichteten Layout wird in den Menschen die Vorstellung geweckt, dieses oder jenes haben, sehen oder erleben zu müssen. Damit werden unvorstellbare Umsätze erzielt. Ob damit aber die tiefe Sehnsucht des Menschen nach Angenommen- und Verstandensein, nach Geborgenheit und Glück erfüllt wird, bleibt die Frage. Die zunehmende Zahl an überforderten, an orientierungs- und ratlosen, an hilfsbedürftigen und vereinsamten Menschen macht dies deutlich.
Das ergibt in der Tat in unserer Gesellschaft eine seltsame Spannung: einerseits der durch die Werbebranche gesteigerte Konsum, andererseits die zunehmende innere Leere und Hilflosigkeit bei vielen Menschen gerade in Zeiten, in denen Sorgen, Probleme und persönliche Nöte das eigene Leben überschatten.
Mit der geschickten Art und Weise der Werbung Menschen etwas zu verkaufen, wird viel Geld verdient. Dagegen ist das Bemühen, Menschen und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, stark unterentwickelt.
Insofern ist das heutige Evangelium äußerst interessant. Dem Bericht des Markusevangelisten geht unmittelbar das Gespräch Jesu mit seinen Jüngern über das Herrschen und das Dienen voraus; diesem folgt die Heilung des blinden Bartimäus.
„Ich möchte wieder sehen können“, so sagt er zu Jesus. D.h. er ist im Laufe seines Lebens blind geworden. Er hat nicht mehr das Eigentliche, das Schöne im Leben sehen können. Was immer ihn geblendet, ihm den Blick für das Wesentliche genommen, ihn in dieser verblendeten Situation gebunden hat, er hat auf alle Fälle nicht mehr durchgeblickt. Sein Leben war aussichtslos geworden, er hatte keine Perspektive mehr und ist - wie das Evangelium anschaulich schildert - auf der Strecke geblieben. Er kam aus eigener Kraft nicht mehr weiter.
Doch seine Not nimmt kaum einer wahr, sie wird von den einen überhört, von anderen mit kleiner Münze abgetan, wieder andere empfinden ihn und seinen Hilferuf sogar als lästig und versuchen ihn zum Schweigen zu bringen.
Und Jesus, der zuvor vom Herrschen und Dienen, vom Einsatz des Lebens sprach, macht in dieser Situation ernst, allein schon dadurch, dass er hellhörig ist für die Not, die ihm begegnet, an der er nicht vorbeigeht und von der er sich aufhalten lässt.
Für mich steckt die entscheidende Botschaft dieses Evangeliums in zwei Aussagen Jesu; zunächst in der Frage: „Was soll ich dir tun?“
Jesus gibt kein Almosen, und er sagt nicht: „Ich hätte derzeit im Angebot!“
Die Not bestimmt das Handeln und Wirken Jesu! Das gilt es immer neu zu bedenken - für jeden einzelnen Christen, für jede einzelne Gemeinde und für die Kirche insgesamt!
In einem seiner vielen Gedichte schreibt Lothar Zenetti:
Wenn ich euch so zuhöre und betrachte mir
die Programme eurer Gemeinden, ihr Christen,
dann kommen mir Fragen; verzeiht:
Sind die Hungernden nicht mehr hungrig,
die Dürstenden nicht mehr durstig,
die Bedürftigen nicht mehr bedürftig?
Können die Blinden nun sehen,
die Stummen nun reden,
die Lahmen nun gehen?
Haben die Fragenden Antwort,
die Zweifelnden Gewissheit,
die Suchenden ihr Ziel gefunden?
Sind die Armen im Geiste schon selig,
die Trauernden schon getröstet,
besitzen die Sanften schon das Land?
Wenn ich euch so zuhöre und betrachte mir
die Programme eurer Gemeinden, ihr Christen,
dann kommen mir Fragen, verzeiht!
Es muss uns nachdenklich machen, dass in unserer Gesellschaft das Vertrauen in die Amtskirche so weit abgesunken ist – laut Allensbach auf 17 Prozent - während das Vertrauen in die sozialen und caritativen Dienste der Kirche von über siebzig Prozent der Menschen in unserem Land überaus geschätzt wird.
Mit unserer Sorge um die Menschen und ihre Nöte geht es weder darum, Gewinne zu machen, noch nur darum, eine körperliche Last zu lindern. Bei aller Professionalität kommt es immer auch auf die direkte, unmittelbare menschliche Begegnung an. Das macht Jesus im Evangelium deutlich: Er hilft nicht im Vorbeigehen, er speist den Blinden nicht mit Münzen ab, er schenkt ihm Ansehen, interessiert sich für ihn, für das, was ihm nottut.
Die persönliche Zuwendung ist also dabei ganz wichtig. In all den sozialen Diensten bei uns, ob von Wohlfahrtsverbänden oder von kommerziellen Anbietern, fehlt es gewiss nicht an Professionalität im handwerklichen Tun, es mangelt aber immer wieder an direkter Zuwendung zu den Menschen. Deshalb wäre z.B. eine Krankenschwester nur eine bezahlte Fachkraft, wenn ihr nicht mehr an den Patienten liegen würde, als durch ihre Tätigkeit ihr Einkommen zu verdienen. Ebenso blieben eine Erzieherin, ein Lehrer, eine Lehrerin bezahlte Bildungstechniker, wenn sie nicht mehr Interesse an den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen zeigten, als einen Job zu haben – oder noch schlimmer: ihre Ideologie umzusetzen.
Wir alle wünschen uns von der Wiege bis zur Bahre nicht bloß die reibungslose professionelle Versorgung, sondern mehr noch die ungekünstelte liebevolle, sorgsame und absichtslose Zuwendung eines anderen Menschen, wodurch uns Gottes Liebe nahekommt.
Die heilsame und wundervolle Zuwendung Gottes erfährt Bartimäus in der Begegnung mit Jesus. Das verändert sein Leben. Er lässt sich nicht länger nur mit Geld abspeisen. Er ruft nach Jesus.
Er warf seinen Mantel weg; mit dieser Anmerkung macht der Evangelist deutlich, dass ihm sein ganzes Hab und Gut nicht mehr wichtig war, sondern nur die direkte, persönliche und deshalb zutiefst menschliche Zuwendung, die ihm Jesus schenkt.
Neben der ersten wichtigen Botschaft des heutigen Evangeliums, der Frage: „Was soll ich dir tun?“, bringt Jesus die zweite mit der Feststellung auf den Punkt: „Dein Glaube hat dir geholfen!“ Denn in allem geht es um das Vertrauen in Gottes Nähe, in seine Hilfe und um seine Liebe, die wir einander weitergeben sollen. „Dein Glaube hat dir geholfen!“, so sagt Jesus zu Bartimäus.
Das lateinische Wort für „ich glaube“ heißt „credo“: „Credo“ ist zusammengesetzt aus „cor“, zu Deutsch „das Herz“, und „do“, „ich gebe“. Ich glaube an Gott, wenn ich IHM mein Herz gebe, IHM ganz und gar vertraue. Und weil er mir seine Nähe, sein Herz, sein Erbarmen schenkt, kann ich wieder durchblicken und weiterkommen auf meinem Weg durchs Leben.
Und weil Jesus dem Blinden die Augen für das Eigentliche im Leben geöffnet hat, kann dieser selbst zum Zeugen und zum Boten seiner Liebe werden. Von Bartimäus heißt es: „Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg.“ Der Weg mit Jesus führt, wie schon die nächsten Verse im Markusevangelium berichten, direkt nach Jerusalem, wo sich Jesus für alle Welt und für alle Zeit auf seine Liebe festnageln lässt.
In Rom ging in diesen Tagen die Bischofssynode zu Ende, die sich mit der Frage der „Neuevangelisierung“, also der Weitergabe des christlichen Glaubens, beschäftigte. Erzbischof Zollitsch stellte fest, die Konferenz im Vatikan habe gezeigt, wie notwendig es auf allen Kontinenten sei, den Glauben heute zu leben, zu bezeugen und in einer verständlichen Sprache zu verkündigen. Es sei für die Kirche heute notwendig, nahe bei den Menschen in der säkularen Welt zu sein, ihnen zuzuhören und Antworten zu finden.
Nichts anderes macht Jesus: Er ist hellhörig für die Menschen und berührt ihr Herz mit seiner Liebe.
Es geht also keineswegs darum, irgendwelche Werbestrategien zu entwickeln, um die Menschen für die Glaubensbotschaft zu interessieren. Vielmehr geht es darum, wie es der französische Schriftsteller Paul Claudel einmal formuliert hat: „Rede nur, wenn du gefragt wirst, aber lebe so, dass man dich fragt.“
Und das tun wir am glaubwürdigsten, wenn wir uns um die Menschen annehmen.