Die Predigt im Wortlaut:
„Zeitenwende“ ist das „Wort des Jahres 2022“. Es bezieht sich auf die Rede des Kanzler am 27. Februar vor dem Bundestag. Mit Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine muss sich nicht nur die deutsche Wirtschafts- und Energiepolitik völlig neu ausrichten. Die enge wirtschaftliche Verflechtung mit Staaten wie China oder Russland wird nun kritisch gesehen. Zugleich fand bei vielen Menschen eine emotionale Wende statt. Die Angst vor Atomkrieg und einem drittem Weltkrieg ist zu spüren. In seiner Rede sagte Scholz: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“
In der Tat erleben wir eine Zeitenwende: Die Pandemie mit ihrer Gesundheits- und Gemeinschaftskrise ist noch nicht wirklich überwunden, da ereilt uns die Energiekrise, die Inflation neben der Umweltkrise, dazu die verzweifelte Suche nach Fachkräften aus aller Welt – insbesondere für den sozialen Bereich. Die Sorglosigkeit, die uns jahrzehntelang umgeben hat, ist vergangen. Kontroverse Diskussionen und Debatten werden durch immer aggressivere Aktionen begleitet wie z.B. das Agieren der „Letzten Generation“, die sich eigenmächtig auf Straßen kleben und Verkehrswege blockieren, Kunstwerke zerstören oder jetzt in Berlin die Spitze des großen Christbaums am Brandenburger Tor abgesägt haben. Die Zeitenwende in der Kultur des Miteinanders wurde schon deutlich beim Streit um den Umgang mit Corona.
Eine Zeitenwende hat sich längst im Blick auf die Bewertung und den Schutz des menschlichen Lebens an seinem Anfang wie auch an seinem Ende ereignet und sie vollzieht sich mehr und mehr im Blick auf ethische und moralische Fragen. Da geht es nicht nur darum staatlicherseits die Essenpläne für Kantinen, Schulen und Kitas zu organisieren. Die menschliche Existenz wird mehr und mehr vom Menschen selbst definiert. So soll schon Kindern und Jugendlichen auch ohne Einverständnis der Eltern möglich sein, ihre Geschlechtsidentität festzuschreiben. Und aktive Sterbehilfe soll nicht nur im Blick auf das Alter und die Schwere einer Erkrankung angedacht werden dürfen, sondern auch ein junger, kerngesunder Mensch kann das – etwa aus Liebeskummer – für sich einfordern.
Der Begriff „Zeitenwende“ beschreibt nicht nur das Ende mancher Sorglosigkeiten, sondern auch den Verlust an Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft. Vor diesem Hintergrund führt eine andere Beobachtung dieser Tage ebenso zur Feststellung einer „Zeitenwende“.
Nach dem aktuellen „Religionsmonitor“ der Bertelsmann-Stiftung glauben nur noch 38 Prozent der Deutschen stark an Gott. Nicht einmal mehr die Hälfte der Deutschen gehören einer der beiden großen christlichen Kirchen an. Von den verbliebenen Kirchenmitgliedern tragen sich zwanzig Prozent mit dem Gedanken aus der Kirche auszutreten. Eine Zeitenwende ereignet sich also auch im Blick auf den Glauben und das Vertrauen in Gott.
Bemerkenswert für den Bedeutungsverlust ist z.B., dass früher die Spitzen des Staates und der Regierung zu den Jahresempfängen der Kirche kamen und den Kontakt und das Gespräch suchten. Doch beim St. Michaels-Jahresempfang der katholischen Kirche am 12. Oktober in Berlin war kein einziger Vertreter der Staatsspitze bzw. der Regierung erschienen. Ausgerechnet da sprach der Vorsitzende der Bischofskonferenz zum Thema „Hoffnung“ gerade in schwierigen Zeiten.
Ein anderes deutliches Beispiel sei noch erwähnt: Das Treffen der G-7-Außenminister aus Anlass der Beratungen über den Ukraine-Krieg fand am 3. und 4. November im Ratssaal der Stadt Münster statt. Der historische Saal wird auch Friedenssaal genannt, weil dort der „Westfälische Friedensvertrag“ verhandelt und geschlossen wurde. Dadurch fand der Dreißigjährige Krieg sein Ende. Doch vor der Außenministertagung ließ das deutsche Außenministerium das Friedenskreuz, das seit 1540 dort hängt, abhängen.
Wir erleben in der Tat eine Zeitenwende – aber nicht nur in den höheren Etagen der Gesellschaft und der Politik. Heute wird schon in zunehmend mehr Kommunen die Frage gestellt, ob Kirche noch Träger für eine Kita sein kann. Zugleich wird der Kirche – zumeist mit Verweis auf die schrecklichen Missbrauchsfälle – der moralische Anspruch in Fragen des Lebensschutzes – etwa am Beginn oder am Ende des menschlichen Lebens – abgesprochen.
Damit ist aber noch längst nichts gewonnen für die Menschen und die Gesellschaft. In der WELT stand dieser Tage zu lesen: „Die Deutschen am Ende der Gewissheiten“. „Eine Krise reiht sich … an die Nächste, selbst für die Dickfelligen ist es arg gekommen. Alte Gewissheiten haben sich aufgelöst.“ Neue, so möchte ich ergänzen, haben sich noch nicht gefunden.
Das Vertrauen ins Leben und in die Zukunft wird zudem erschüttert durch die mangelnde Toleranz und den verlorenen Respekt für andere Meinungen, ob man sie teilen mag oder nicht. Die Soziologie entdeckt den Riss, der durch unser Leben geht und die Unsicherheiten verstärkt.
Andreas Reckwitz von der Humboldt-Universität in Berlin sieht die Notwendigkeit, jetzt die „Resilienz“ zu stärken: Die gesamte Gesellschaft müsse lernen, sich gegen die unvermeidlichen Risiken zu wappnen. Vor diesem Hintergrund frage ich mich, ob es möglich ist, mit einer inneren Daseinsfurcht und ohne Gewissheiten den Aufbruch nach Morgen zu wagen.
Es braucht ein Fundament für unser Leben und unser Zusammenleben in der EINEN Welt.
Heribert Prantl erinnert in seinem Kommentar zum Weihnachtsfest in der aktuellen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung an einen Weihnachtswunsch seiner Großeltern, geschrieben in ein altes Buch. „Glück und Gottes Segen“, steht da, und „sei behütet“, und darunter: „Deine Eltern“. Eigentlich nichts Besonderes, wenn nicht dabeistünde: „Kriegsweihnacht 1941“.
Dazu stellt der Journalist fest: An Weihnachten 2022 ist die Unlust groß, irgendetwas von Gott und Segen zu hören. „Die Meinung, dass Weihnachten auch ohne die Erzählung vom Kind in der Krippe funktioniert, wird dieses Jahr besonders süffig vorgetragen. Die Verachtung des religiösen Kerns des Festes mag eine Facette jener innigen und grimmigen Kirchen- und Religionsverachtung sein, die auch zu Weihnachten nicht bereit ist, Konzessionen zu machen. Womöglich aber ist die belächelte alte Geschichte kritischer als ihre Kritiker.“ Sie ist nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70, also nach einem Vernichtungskrieg, geschrieben worden.
Der Bericht beschönigt nichts, er verweist uns auf die Not der Menschen: „Das Kind, der Ernstfall des bedürftigen und hilflosen Menschen, der Mensch in seiner schwächsten Gestalt, ist Maß aller Dinge“, schreibt Prantl. „Das ist der Ausgangspunkt für ein Weltverständnis jenseits des Rechts der Stärkeren. Das ist der Ausgangspunkt der Wahrheitssuche in den Dilemmata der Wirklichkeit. Das ist der Ausgangspunkt von Ethik und Moral.“
Nachdem sich zunehmend mehr Menschen zum Christsein bekannten und die Frohe Botschaft Jesu immer stärker das Miteinander der Menschen prägte, hat man nach etwa sechs Jahrhunderten versucht, den Zeitraum der Geburt Jesu zu ergründen und von da an die Zeit neu zu rechnen. Somit wurde die Geburt Jesu, sein Kommen in die Welt, die Verkündigung seiner Frohen Botschaft und das Zeugnis der Liebe zum Leben und zum Nächsten zur Zeitenwende – zur Zählung der Zeit „nach Christi Geburt“. Daraus entwickelten sich unsere Kultur, Bildung, Wissenschaft und Kunst, ebenso unser Miteinander, soziale Verantwortung, Solidarität und Rechtsempfinden bis hin zur Gastfreundschaft.
Wann immer sich Menschen im Laufe der Geschichte von diesem Fundament abgewandt hatten, wurde es zur Wende nach unten mit unkalkulierbaren Risiken und Gefahren für das Leben. Der Blick zurück in die Geschichte erweckt den Eindruck, als ob die Menschen erst nach einem Desaster wieder zur Besinnung kommen – wie z.B. nach dem Zweiten Weltkrieg, weshalb dann in der Präambel zum Grundgesetz festgehalten wurde: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, … dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk … dieses Grundgesetz gegeben.“
Spätestens seit den Diskussionen, ob Gott nicht aus dem Grundgesetz gestrichen werden soll, ebenso wie der Gottesbezug im europäischen Einigungsvertrag nicht erwähnt werden durfte, bahnt sich eine Zeitenwende an, deren Auswüchse wir zunehmend stärker in aggressiven Formen des Umgangs miteinander erleben.
Im Blick auf das Kommen des Erlösers schrieb der Prophet Jesaja: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht; über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, strahlte ein Licht auf.“ In all der Not seiner Zeit ermutigte Jesaja auf Gott zu schauen und mit IHM zu rechnen. Deshalb kann der Völkerapostel Paulus in seinem Brief an Titus schreiben: „Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten. Sie erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit … loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben … Er hat sich für uns hingegeben, damit er uns von aller Ungerechtigkeit erlöse und für sich ein auserlesenes Volk schaffe, das voll Eifer danach strebt, das Gute zu tun.“
Während der Kaiser und der Staat versuchten, die Welt zu organisieren, Listen anzufertigen, wurde in Jesus Gott selbst in unser Dasein geboren. Doch begriffen haben es nicht die Wortführer der Welt, sondern diejenigen, die nicht auf sich bedacht waren. Für sie bedeutete die Begegnung mit dem Kind von Betlehem eine Zeitenwende, ebenso wie für all die Menschen, denen er durch seine Botschaft und sein heilvolles Wirken zu einem Leben voller Zuversicht verhalf. Heribert Prantl schreibt in seinem Kommentar: „Ein Kind überzeugt nicht durch Argumente, es appelliert ans Herz; das ist seine einnehmende Macht. Darum ist Weihnachten das beliebteste aller Feste geworden.“ Und es gilt, Weihnachten als Glaubensfest zu feiern!
Insofern finde ich eine aktuelle Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft höchst interessant. Darin wird u.a. festgestellt: „Internationale Studien zeigen für 24 untersuchte Länder (u.a. USA, Japan, Neuseeland oder Niederlande), dass der regelmäßige Gottesdienstbesuch das subjektive Wohlbefinden steigert.“ Weiterhin heißt es in der Studie: „Untersuchungen aus den USA zeigen außerdem, dass Kirchgänger … sich häufiger ehrenamtlich in Vereinen und anderen sozialen Gemeinschaften engagieren.“
Zusammenfassend sagt der Verhaltensökonom des IW Dominik Enste: „Weihnachten ist wahrlich das Fest der Freude: Wo Menschen zusammenkommen und feiern, steigt auch das Glück … Gerade in Krisenzeiten bietet das den Menschen Zuflucht und Zusammenhalt.“
Wir erleben eine Zeitenwende verbunden mit großen Sorgen! Deshalb sollte die Feier von Weihnachten heute zum Signal für eine neue von Hoffnung und Zuversicht getragene Zeitenwende werden. Widmungen wie „Glück und Gottes Segen“ und „sei behütet“ braucht es gerade heute. Dafür steht das Kind in der Krippe und der Mann am Kreuz. Der menschgewordene Gott gibt dem Leben Sinn und Ziel, Orientierung und Halt. IHM können wir folgen und werden glücklich wie die Hirten an der Krippe. Das gilt es zu feiern – nicht nur in diesen Tagen!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Wenn du dich satt gesehen hast
an dem Kind in der Krippe,
geh nicht fort.
Schau auch auf die,
die er um sich versammelt hat.
Bevor du gehst,
mach erst wieder
seine Augen zu deinen Augen,
seine Ohren zu deinen Ohren
und seinen Mund zu deinem Mund.
Mach seine Hände zu deinen Händen,
sein Lächeln zu deinem Lächeln
und seinen Gruß zu deinem Gruß.
Dann erkennst du in jedem Menschen
deinen Bruder, deine Schwester.
Wenn du ihre Tränen trocknest
und ihre Freude teilst,
dann ist Gottes Sohn wahrhaftig geboren.
Du darfst dich freuen,
alle Menschen können sich freuen,
können leben -
in dieser Nacht
und für immer.
Lothar Zenetti