Die Predigt im Wortlaut:
„Wir brauchen mehr Menschlichkeit.“ Mit dieser Feststellung endet ein interessanter Kommentar, der vor wenigen Tagen in der WELT zu lesen war.
„Wir brauchen mehr Menschlichkeit.“ – Die Überschrift zu den lesenswerten Gedanken lautete „Streitsüchtige Gesellschaft“!
Der Kommentator nimmt Bezug zum unlängst erschienen Buch eines amerikanischen Psychologen und Neurowissenschaftlers mit dem Titel: „The Good Reasonable People“ – zu deutsch – „Die guten, vernünftigen Leute“. Seine Beobachtung ist: „Fast jeder zähle sich zu den Guten und Vernünftigen; die Schuld werde daher immer auf der Gegenseite gesucht. So erscheinen stets die anderen als irrational, fremdartig, schlecht, provokativ – niemals wir selbst.“ Aus dieser These ergibt sich, dass die Ursache für Spaltungen der Gesellschaft nicht in der politischen oder wirtschaftlichen Lage liegt, sondern in unseren gleichbleibenden psychischen Verhaltensmustern. Der Wissenschaftler folgert daraus, dass die gefühlte Zerrissenheit sehr viel größer ist als die tatsächliche. Seine Analyse der amerikanischen Gesellschaft – bei uns ist es m.E. kaum anders – lautet von daher: „Wir sind ein geteiltes Land, aber in unseren Köpfen sind wir noch gespaltener als in der Realität.“
In diesem Zusammenhang verweist der Kommentator in der WELT auf ähnliche Erkenntnisse deutscher Soziologen. Hier wird u.a. von einem „strukturellen Alarmismus“ in der öffentlichen Debatte gesprochen, für den auch die Medien verantwortlich seien: „Es gibt eine Polarisierungstendenz in der Presse, die einer politischen Polarisierungstendenz folgt. Die Presse verliert so die Fähigkeit, ein Korrektiv der Politik zu sein.“ Weite Teile der sogenannten sozialen Medien würden „Statusängste von Menschen bewirtschaften“.
Das führe zur Zunahme „affektiver Polarisierung“, weshalb zumeist nicht mehr in der Sache debattiert wird, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe darüber entscheide, ob eine Haltung, ein Beitrag als legitim oder illegitim erachtet wird. Es fehle an einer elementaren Voraussetzung für konstruktiven Streit.
Im Grunde geht es um die eigene soziale Identität und eine geradezu narzisstische Besessenheit, stets im Recht zu sein. Der Kommentator kommt deshalb zu dem Schluss, dass jeder Einzelne gefordert ist, an sich selbst zu arbeiten, die eigene Fehlbarkeit zu reflektieren und anderen Meinungen mit Gelassenheit zu begegnen – mit anderen Worten: „Wir brauchen mehr Menschlichkeit.“
Es geht um die eigene Identität: „Wer bin ich?“. Damit sind wir bei der Botschaft des Festes, das wir heute in unseren Gottesdiensten feiern. Wir feiern das Fest der Taufe Jesu. Es erinnert an die Erwählung Jesu, und dass er für sein Leben und sein Wirken mit Heiligem Geist erfüllt wurde. Dieses Ereignis steht am Beginn seines öffentlichen Auftretens. Bei der Taufe wird deutlich, wes‘ Geistes Kind Jesus ist, aus welchem Geist heraus er lebt, redet und handelt. Hier wird deutlich, was ihn erfüllt, und wer ihn beauftragt und ausgesandt hat.
Durch Jesus wirkt letztlich Gott in der Welt. Somit handelt Jesus auch nicht aus sich heraus, sondern aus der Kraft Gottes. Das gab ihm Standfestigkeit im Leben, Entschlossenheit und Mut. So konnte er barmherzig sein wie der Vater im Himmel. Die Menschen spürten die Nähe Gottes, den Himmel über sich, wo immer er war, wo er sich um Kranke annahm, wo er Sündern einen Neuanfang ermöglicht hat.
Deshalb hatte er die Kraft zu vermitteln, Brücken zu bauen zwischen den Menschen und von den Menschen zu Gott. Dafür setzte er sogar sein Leben aufs Spiel. Deshalb wurde letztlich das Kreuz zum Identitätsmerkmal für Jesus.
Am Fest der Taufe Jesu erinnern wir uns bewusst auch an unsere eigene Taufe, daran dass das Wasser über uns ausgegossen, das Kreuz auf unsere Stirn gezeichnet und unser Kopf mit Chrisam gesalbt wurde.
Damit wurde am Beginn unseres irdischen Lebensweges angedeutet, dass wir zu Jesus gehören, dass wir Christen sind und aus der Kraft Gottes heraus leben und handeln und unseren Weg zuversichtlich, mit Überzeugung und mit vollem Einsatz gehen sollen. Der Glaube an Jesus Christus gehört zentral zu meiner Person und zu meinem Leben als Christ.
Für uns Christen ist die Taufe – um es im theologischen Fachbegriff zu sagen – ein „identitätsstiftendes“ Ereignis im Leben und – wie die Kirche sagt – ein unauslöschliches, also unverwechselbares Merkmal.
Es ist also wesentlich, ob die Menschen uns anmerken, dass wir Christen sind, d.h. einerseits mit Haut und Haaren Mensch, mit all dem, was einen Menschen ausmacht, also auch mit Unzulänglichkeiten und Defiziten, andererseits aber immer wieder bemüht, dem Auftrag der Frohen Botschaft und dem Beispiel Jesu zu entsprechen. Und genau darauf kommt es jetzt an – in einer Zeit des gewaltigen Umbruchs unserer Gesellschaft!
Es gilt, die ökologischen und ökonomischen Veränderungen zu gestalten. Richtig! Aber es dürfen darüber nicht die sich verändernde Bewertung des Menschen und des Menschseins an sich übersehen werden. Ebenso dürfen die sozialen Folgen nicht übersehen werden, die sich aus dem sich verändernden Menschenbild ergeben:
Das Miteinander der Menschen in Partnerschaft und Ehe wird neu definiert. Die normale Familie von Mann und Frau wird kaum mehr erwähnt. Man spricht von „Verantwortungsgemeinschaften“. Doch die Gemeinschaft von Mann und Frau ist von der Natur her notwendig, um Kinder in die Welt zu bringen.
Kinder werden selten als Ausdruck gelebter Liebe zwischen Mann und Frau beschrieben, sondern immer häufiger als Produkt entsprechend dem Willen von Paaren in unterschiedlichster Konstellation oder auch alleinlebender Menschen. Darin stecken der Machbarkeitswahn sowie eine Veränderung von Elternschaft und der natürlichen Lebensgrundlagen.
Einerseits sollen Kindergrundrechte ausdrücklich in die Verfassung geschrieben werden, andererseits soll eine Blankoerlaubnis dafür ausstellt, werdendes Leben zu vernichten. Die gesetzliche Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen soll noch schnell vor der anstehenden Bundestagswahl grundlegend verändert werden, weil – wie die Medien bekunden – eine Mehrheit in der Bevölkerung es so sieht. Der Wert und die Würde menschlichen Lebens werden also entsprechend einer gefühlten Mehrheitsmeinung beurteilt. Zudem sei der Vorgang eines Schwangerschaftsabbruchs wie eine „Heilbehandlung“ zu vergüten.
Das Recht auf selbstbestimmtes Leben führt dazu, dass schon Jugendliche beim Standesamt ihren Geschlechtseintrag selbst bestimmen können. Auch bei der gesetzlichen Regelung zum assistierten Suizid steht u.a. die Frage im Raum, ob Jugendliche – vielleicht nur aus Liebeskummer – das Recht haben, aus eigenem Wunsch aus dem Leben zu scheiden.
Anfang und Ende des Lebens sind also immer mehr in der Verfügung des Menschen.
Das alles ist nicht modern. Jeder kann heute leben, wie er will. Der Staat macht keine Vorschriften. Auf jeden Fall aber soll er das Leben schützen, die Art, wie es entsteht und sich am besten entfaltet. Genau das gerät immer mehr aus dem Blick.
In diesen Zeiten des Umbruchs braucht es uns Christen, braucht es unser Zeugnis. Die Menschen um uns herum sollten es uns anmerken, dass wir aus dem Geist Gottes heraus leben, lieben, hoffen und handeln. Man sollte es uns anmerken, dass wir Christen sind. So können wir in einer Gesellschaft, die auf der Suche nach einer lebenswerten Zukunft ist, Zeichen setzen für das Leben. Doch als Kirche sind wir derzeit stark mit uns selbst beschäftigt – mit Struktur-, Organisations-, Macht- und Ämterfragen, neben der Aufarbeitung des Missbrauchsskandal, den es leider auch in der Kirche gab. Mit Leidenschaft wird über die Verfassung der Kirche diskutiert – ob hierarchisch oder demokratisch oder synodal. Dabei wäre gerade jetzt unser konkretes Zeugnis in der Gesellschaft, unter den Menschen so wichtig!
Deswegen werde ich nicht müde Pater Alfred Delp zu zitieren, der vor 80 Jahren, am Lichtmesstag 1945, im Alter von 37 Jahren im KZ umgebracht wurde, weil er in gefährlicher Zeit unerschrocken auf die Lebensbotschaft Gottes und ihre Konsequenzen für das Leben und das Zusammenleben hingewiesen hat. Aus dem KZ schrieb er an seine Freunde: Es wird in Zukunft ankommen auf die „Rückkehr der Kirche in die ‚Diakonie‘: in den Dienst der Menschheit. Und zwar in einen Dienst, den die Not der Menschheit bestimmt, nicht unser Geschmack oder unsere Gewohnheiten ... Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienst der physisch, psychisch, sozial, wirtschaftlich, sittlich oder sonstwie kranken Menschen ... Rückkehr in die ‚Diakonie‘ habe ich gesagt. Damit meine ich das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen ... damit meine ich das Nachgehen ... auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen ... ‚Geht hinaus‘, hat der Meister gesagt, und nicht: ‚Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt ...‘“
Ich wünsche es den vielen suchenden, fragenden und orientierungslosen Menschen in unserer Gesellschaft, dass sie Menschen begegnen, denen sie anmerken, dass es Christen sind. Es geht also um unsere Identität! Dann gelingt es, unseren Beitrag zu leisten zu dem Appell des eingangs zitierten Kommentars: „Wir brauchen mehr Menschlichkeit.“
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Herr, du hast uns gerufen.
Die Unruhe, die uns ergreift,
wenn wir dein Wort hören, beweist es.
Du kennst unsere Schwäche.
Du weißt, wie leicht wir den Mut verlieren.
Du weißt, wie ängstlich wir unsere Schritte setzen.
Aber du hast uns gerufen.
Darauf verlassen wir uns.
Wirke in uns, wenn es dein Wille ist.
Brauche uns, und mache uns brauchbar.
(Jörg Zink)