Die Predigt Wortlaut:
„Schafft den Gottesdienst am Sonntag ab!“ Das forderte die Hildesheimer Pastorin Hanna Jacobs in ihrem „Gastbeitrag“ in der Ausgabe der ZEIT vom 8. Mai. In der Überschrift hieß es: „Die Kirchen klammern sich an ein wöchentliches Ritual, das kaum noch jemanden reizt. Die Zeit ließe sich besser nutzen.“
Die junge Theologin überlegt, „ob es nicht würdevoller wäre, einen beherzten Schlussstrich zu ziehen und damit Zeit und Energie freizusetzen, die Kirchen so dringend brauchen.“ Sie spricht sich dafür aus und erinnert an die Zeit der Reformation: „Das Augsburger Bekenntnis aus dem Jahr 1530 beschreibt Kirche als diejenigen, die sich um Wort und Sakrament versammeln. Um eine Predigt zu hören und Abendmahl zu feiern war sonntags um 10 Uhr … die ideale Stunde: Die Mägde und Knechte hatten das Melken hinter sich, und die mittägliche Stallfütterung war noch nicht dran.“ Das gemeinschaftsstiftende Erlebnis bzw. die damit deutlich werdende Identifikation mit der Glaubensgemeinschaft ignoriert sie. Sie schreibt: „Die Vorstellung, dass eine Gemeinschaft sich darüber konstituiert, dass alle, die dazugehören, zur selben Zeit am selben Ort sein müssen, entspringt auch dem vormodernen Denken.“
Die Kritik der Pastorin mündet in Aussagen wie: „Am Sonntagmorgen wird für die kleine Schar der Anwesenden eine Volkskirche inszeniert, die es nicht mehr gibt.“ Oder: „Dass die beiden Großkirchen stoisch am Gottesdienst als ihrem Aushängeschild schlechthin festhalten, ist Realitätsverweigerung.“ Und nur für wenige Kirchenmitgliedern das Angebot aufrechtzuerhalten, nennt sie „Oligarchie“, also die Herrschaft von wenigen.
Allerdings gebe ich ihr recht mit ihrer Kritik, dass die Liturgie oft zu wenig Bezug zum konkreten Leben habe und eher den Eindruck von einem gedankenlosen Ritual erwecke. Ob aber ihre Vorschläge mehr Menschen anziehen und zu einer Vertiefung des Glaubens führen, bezweifle ich wie z.B.: „Die biblische Weinprobe in der Kirche und der Jazzgottesdienst ergänzen sich beispielsweise. Der feministisch-theologische Lesekreis wird andere Menschen erbauen als der Worship-Abend (Anm.: die Anbetung).Nicht zuletzt hätten Personal und Pfarrerinnen und Pfarrer damit mehr Zeit, neue Veranstaltungen zu konzipieren.“
Eine Woche danach, also in der ZEIT vom 16. Mai, entgegnete der evangelische Theologe Karl Friedrich Ulrichs: „Der Sonntagsgottesdienst muss bleiben!“ Er nennt es eine „Ignoranz“ gegenüber den in der evangelischen Kirche etwa 700 000 Menschen, die zum Gottesdienst am Sonntag zusammenkommen und den etwa 800 000, die über das Fernsehen mitfeiern. In der katholischen Kirche bei uns sind es etwa 1,2 Millionen Christen, die nach wie vor zum Gottesdienst am Sonntag kommen, dazu über zwei Millionen, die am Fernseher mitfeiern.
Unbestritten ist, dass mancherorts der Eindruck vorherrscht, dass die Gottesdienstfeier wenig vom Mysterium der Gegenwart des Auferstandenen erahnen lässt, der uns in seinem Wort und im eucharistischen Mahl nahekommen will. Nicht selten wird zudem in der Verkündigung wie in den Gebeten der Bezug zum konkreten Leben vermisst. Von daher ist Kritik berechtigt, aber keineswegs die Forderung, den gemeinsamen Gottesdienst abzuschaffen. Der Theologe Ulrichs erinnert an den biblischen Ursprung, dass die jungen christlichen Gemeinden „am ersten Tag der Woche“ zusammenkamen. Dabei waren die Glaubensbotschaft und das gemeinsame Mahl wichtig. Ulrich verweist auf die „… Gemeinschaft … die Kommunikation des Evangeliums … (und) aktuelle oder grundsätzliche Fragen des eigenen Glaubens …“
Papst Benedikt hat in seiner ersten – für mich nach wie vor beachtenswerten – Enzyklika „Deus caritas est“ den Dreiklang genannt, der untrennbar zusammengehört: Feier des Gottesdienstes, Weitergabe der Glaubens und Dienst am Nächsten, also „caritas“. Ausgangspunkt und Ziel unseres Christseins und all unseres Wirkens ist die Feier der „communio“, der Gemeinschaft mit dem Auferstandenen und untereinander. Die Christen haben sich und ihr Leben nicht von der gängigen Meinung her verstanden, sondern vom Auferstandenen her. Das wöchentliche Osterfest am Sonntag war für sie konstitutiv.
Justin der Märtyrer schrieb um das Jahr 150: „An dem nach der Sonne benannten Tag findet die Zusammenkunft von allen … an einem gemeinsamen Ort statt. Es werden die Aufzeichnungen der Apostel und die Schriften der Propheten vorgelesen … (und) die Danksagung begangen …“ Sogar unter Gefahr des eigenen Lebens kamen sie zusammen. In einem Gerichtsprotokoll aus dem Jahr 304 wird berichtet, dass den Christen ihre Zusammenkünfte, also die Feier des Gottesdienstes, verboten war. Sie ließen sich aber nicht abhalten. Zu ihrer Verteidigung gaben sie zu Protokoll: „Sine dominico, sine domino, sine deo non possumus.“ – „Ohne den Tag des Herrn, den Sonntag, ohne den Herrn, ohne Gott können wir nicht sein, können wir nicht existieren.“ – Wir können nicht sein, wenn wir uns nicht an Gott halten und einander bestärken.
Weil die Christen aus ihrem Glauben, aus der tiefen Verbindung zu Jesus heraus lebten und handelten, hat diese kleine Minderheit gegen alle Widerstände der Welt ein menschliches Gesicht gegeben, hat sie z. B. die soziale Kultur des sogenannten Abendlandes geprägt.
Die biblische Botschaft, die uns an diesem Sonntag verkündet wird, ist gerade in der Rund-um-die-Uhr betriebsamen Welt unserer Tage wegweisend. In der Lesung aus dem Buch Deuteronómium wurde uns ans Herz gelegt: „Halte den Sabbat: Halte ihn heilig, wie es dir der Herr, dein Gott, geboten hat! Sechs Tage darfst du schaffen und all deine Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du und dein Sohn und deine Tochter und dein Sklave und deine Sklavin und dein Rind und dein Esel und dein ganzes Vieh und dein Fremder in deinen Toren. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du.“ Eine zutiefst auch soziale Botschaft, bei der es über den Aspekt der freien Zeit hinaus darum geht, zu mir selbst, zum anderen, zu Gott zu kommen.
Was für den Juden der siebte Tag als Zeichen der Vollendung von Gottes guter Schöpfung ist, ist für uns Christen der erste Tag der Woche, der Tag der Auferstehung und des neuen Lebens, des neuen Anfangs, den Gott uns gönnt. An diesem Tag sind wir eingeladen, zu rasten und aufzuschnaufen. Da soll es jedem bewusst werden, dass wir nicht nur für die Arbeit, das Getrieben sein, den Stress geboren sind. Dieser Tag will eigentlich in uns die Freude am Leben vertiefen.
Doch das ist nur die schöne Theorie. Längst ist der Sonntag krank, weil seine Praxis ganz anders aussieht. Der Sonntag ist längst nur noch einfach „Wochenende“, allenfalls gut für das dicht gefüllte Freizeitprogramm, bei dem wir auch wieder von Aktion zu Aktion getrieben werden.
Und wer wünscht heute noch „einen gesegneten Sonntag“? Denn damit verbindet sich das Vertrauen auf Gott, der das Leben will und uns dazu einen immer neuen Anfang schenkt. Wir hören selbst am Sonntag zumeist „schönes Wochenende“ mit der Konsequenz, dass der Montag zum ersten Tag wird. Die Woche beginnt also nicht mehr mit der Feier des Lebens, sondern mit der Arbeit. Wo es aber keinen Sonntag mehr gibt, bleiben nur noch Werktage!
Der Sonntag ist krank! Im Grunde ist aber der Mensch krank! Wir machen uns letztlich selber krank, wenn wir zulassen, dass der Sonntag verkommt, verdirbt und irgendwann als einer von sieben möglichen Arbeitstage ganz stirbt.
Ebenfalls in der ZEIT wurde in der vergangenen Woche im Blick auf Sonn- und Feiertage vorgerechnet: „Bänder stehen still, Supermärkte sind geschlossen – die Hälfte des Landes hat heute frei. Kann sich das Deutschland überhaupt noch leisten?“ Der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, hat gefordert: Weg mit Fronleichnam, dem Tag der Arbeit oder Pfingsten, und schon stiege die Wettbewerbsfähigkeit. Wer aber das Leben nur noch in Zahlen berechnet, wird dem Menschen und seiner Würde nicht mehr gerecht.
Ein Mensch, der den Sonntag nicht mehr feiern kann mit allem, was dazu gehört, lähmt sich selbst. Zur Rettung des Sonntags muss der Mensch geheilt werden, so wie der Mann in der Synagoge in Kafarnaum, der dort von Jesus geheilt wurde. Im Evangelium dieses Sonntags sagt Jesus: „Stell dich in die Mitte!“ Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit und seiner Bemühungen steht der geschundene Mensch.
Deshalb kann es – gerade in unseren Tagen – nicht heißen: „Schafft den Gottesdienst am Sonntag ab!“ Im Gegenteil muss die Kirche wieder deutlicher machen, dass zum Sonntag die Feier von Tod und Auferstehung, die Feier des Gottesdienstes, dazugehört, und danach auch die Ruhe, das Ausschnaufen, die Erholung und das wohltuende Miteinander.
Zeit für Gott und füreinander. Welch gute Stimmung könnte in unseren Familien entstehen, wenn Partner wenigstens einmal in der Woche einander sagen würden, wie froh sie umeinander sind. Und welche Sicherheit und welches Vertrauen würden unsere Kinder erfahren, wenn die Eltern – wie es bei den Juden bei der Feier des Sabbats Brauch ist – einen Segen über sie sprechen? Sie könnten in solchen Momenten spüren, wie wichtig sie sind.
Der Gott-mit-uns hält einen Tag für uns bereit. Es liegt an uns, was wir daraus machen: ob wir den Sonntag weiter verkommen lassen oder ob wir ihn wieder zum befreienden Tag der Woche für möglichst viele Menschen machen. Also nicht abschaffen, sondern so gestalten, dass Gott, der Anfang, den er schenkt, und seine Ermutigung und Bestärkung erfahrbar werden.
Also nicht „Schafft den Gottesdienst am Sonntag ab!“, sondern gestaltet eine Kultur des Sonntags, die dem Leben dient.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Brot auf dem Weg,
auf Straßen und Plätzen,
unterwegs zu dir und zu mir.
Brot, das Leben spendet,
das den Hunger stillt
nach Sinn und nach Wahrheit.
Brot, das uns eint,
wenn wir einander Brot werden,
indem wir Leben und Liebe teilen.
Brot, das uns nährt,
uns Trost und Ermutigung ist,
Wegzehrung für unser Leben.
Brot für die Welt.
Als Brot tragen wir IHN in die Welt.
(Autor unbekannt)