Die Predigt im Wortlaut:
Ein für mich einprägsames und unvergessliches Ereignis. Es war im Jahr 1963 oder 64. Unser damaliger Pfarrer in Glattbach kündigte an einem Sonntag an, dass während der Woche ein Bischof aus dem fernen Indien, der sich damals in Rom beim Konzil aufhielt, kommen und einen Abendgottesdienst feiern würde. Wir waren gespannt auf diesen Mann aus einer für uns anderen Welt. So werde ich nie vergessen, wie wir 6-, 7-jährige Buben uns ans Portal der Kirche drückten. So waren wir tatsächlich ganz nahe dabei, als unser Pfarrer den besonderen Gast begrüßte. Da stand vor uns der Mann mit seiner dunklen Hautfarbe, mit der Mitra auf dem Haupt und dem goldenen Stab in der Hand. Es hat uns regelrecht in den Fingern gejuckt, wenigstens sein Gewand zu berühren, denn diese Persönlichkeit hat uns fasziniert.
Damals hätte ich es mir niemals träumen lassen, dass ich Jahrzehnte später mit Priestern aus Indien zusammenarbeiten, sogar indische Bischöfe bei mir im Pfarrhaus beherbergen und selbst mehrfach nach Indien reisen würde, um die Partnerschaft zwischen meiner Pfarrei und einer Erzdiözese in Kerala zu vertiefen. Damals war es undenkbar, dass ich heute einem Priester aus Indien, meinem Freund Pfarrer Augustin, die Jubiläumspredigt halten und ihm für seinen Dienst danken würde.
Diese Jubiläumsfeier scheint mir umso wichtiger, weil sie in einer Zeit stattfindet, in der unsere Kirche im Kreuzfeuer der Kritik steht. Eine Welle der Distanzierung von der christlichen Religion überzieht auch unser Land, verstärkt durch eine immer stärkere Säkularisierung Europas.
In der vergangenen Woche wurde in jeder Nachrichtensendung, in allen Zeitungen und Zeitschriften berichtet, dass in 2022, also im vergangenen Jahr, 522 821 Menschen aus der katholischen Kirche in Deutschland ausgetreten seien. Jahr 2021 kehrten 359 338 Katholiken der Kirche den Rücken zu. In Bayern fiel die Zahl der Kirchenmitglieder damit erstmals unter sechs Millionen.
Im gleichen Zeitraum, also in 2022, sind fast 400 000 Menschen aus der evangelischen Kirche ausgetreten im Jahr 2021 waren es knapp 300 000.
Somit gehört nicht einmal mehr die Hälfte der in Deutschland wohnhaften Menschen zu einer beiden christlichen Kirchen. Und das hat auf Dauer massive Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben in unserem Land.
Viele sind jetzt bemüht, Gründe für die Erosion der Kirche in Deutschland zu benennen. Der unsägliche Missbrauchsskandal wird genannt, die kontroversen Diskussionen um Reformen in der Kirche, das Für und Wider des sogenannten synodalen Wegs, die Frage der Weihe von Frauen zu kirchlichen Ämtern usw. All das spielt sicher zu einem gewissen Anteil mit. Für mich aber liegt der Hauptgrund für die allermeisten Austrittserklärungen in dem jahrzehntelangen Versäumnis der persönlichen Sorge um die Menschen. Wer irgendwann vor den Kopf gestoßen wurde bei der Suche nach einem passenden Termin für eine Taufe, eine Trauung, eine Beerdigung, wer vergeblich nach der Begleitung beim Sterben eines Angehörigen gesucht hat, für den sind die aktuellen Ereignisse allenfalls der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Deshalb wurde nun der Austritt vollzogen.
Bei dem auch durch die Medien stark gepushten Synodalen Weg geht es vorwiegend um Ämter, Macht, Kontrolle, zwar auch um das Thema Frauen, im Wesentlichen aber um Strukturen und Organisation. Damit aber wird noch längst nicht der eigentliche Auftrag der Kirche deutlich, nämlich ihre Sendung zu den Menschen, die Sorge um Alt und Jung, ob arm oder reich, auf ihrem Weg durchs Leben mit all seinem Auf und Ab.
Damit bin bei Dir, lieber Pfarrer Augustin! Du kommst zwar nicht daher, im goldenen Ornat wie der Bischof aus Indien. Dennoch aber sind die Menschen, denen Du begegnest, fasziniert von Deiner offenen, menschenfreundlichen Art. Nichts ist Dir zu viel, wenn Menschen Begleitung, Rat, Hilfe suchen. Das Mögliche und Machbare setzt Du in Bewegung, wenn es darum geht, Menschen Beistand, Zuspruch, Ermutigung zu geben gerade an den Knotenpunkten des Lebens. Für diesen ersten und wichtigsten Dienst der Kirche, das Dasein für die Menschen, braucht es – wie mein väterlicher Freund, der langjährige Bischof von Innsbruck, Reinhold Stecher, es formulierte, „priesterliche Menschen und menschliche Priester“. Das Main-Echo hat dies mit Deinen Worten als Überschrift zum Artikel über Dein Jubiläum gedruckt: „Zuerst Mensch, dann Pfarrer“.
Nachdem der Bischof Dir damals die Hände aufgelegt und Dich damit zum Priester geweiht hat, hat er Deine Hände gesalbt, Kelch und Schale überreicht und dabei gesagt: „… Bedenke, was du tust, ahme nach, was du vollziehst, und stelle dein Leben unter das Geheimnis des Kreuzes.“
Dein Dienst ist also nichts Oberflächliches, sondern er kommt von Herzen und Deshalb geht er auch zu Herzen gehen und er vertieft die Verbindung der Menschen zu Gott. All das hat mit Deinem Leben zu tun.
Das Leben in Deinem Elternhaus war geprägt von der Landwirtschaft und der Gastwirtschaft. Zwei wichtige Erfahrungen hast Du von daher mitgenommen. Die Landwirtschaft steht für die Sorge um die uns anvertraute Welt, die wir bebauen, nutzen und pflegen sollen. Die Gastwirtschaft steht für das Miteinander der Menschen, das offene Ohr, mehr noch das weite Herz für das, was sie bewegt.
Weil Deine Eltern ihre Aufgabe im Geist der Frohen Botschaft Jesu erfüllten, hast Du Deinen Weg gefunden, ebenso Dein Bruder, der Franziskanerpater wurde, Deine Schwester, die als Ordensfrau und Ärztin den Menschen dient, und Dein jüngster Bruder, der das elterliche Erbe zuhause fortsetzt.
Nach dem erfolgreichen Abschluss der Dorfschule bist Du bereits mit 16 Jahren in den Orden der Franziskaner-Minoriten eingetreten. Dort hast Du das Abitur gemacht und dann das Studium insbesondere der Philosophie und Theologie absolviert und Du wurdest 1998, also vor nunmehr 25 Jahren, zum Priester geweiht.
Im Blick zurück wird die Fügung deutlich, dass Du zunächst sechs Jahre lang ein Exerzitienhaus geleitet und als Exerzitienmeister vielen Menschen geholfen hast, zu sich, zu ihrem Inneren, zu Gott und damit zu ihrer je eigenen Berufung und ihrem Weg fürs Lebens zu finden. Weil Dir das gut gelungen ist, haben deine Oberen Dich nach Europa geschickt, um indische Christen, die hier leben, zu betreuen und inspirieren. Deine Offenheit für die weite Welt und ihre Vielfalt führte dazu, dass Du drei Jahre lang das Institut für interreligiösen Dialog geleitet hast. Diese Aufgabe führte Dich nach Singapur und Seoul und zu vertiefenden Ausbildungen. So hast Du erfolgreich den Master in Beratungspsychologie gemacht.
Das biblische Leitwort – auch Primizspruch genannt –, das Du Dir bei der Priesterweihe gewählt hast, wurde immer konkreter: „Du nimmst mich bei der Hand und führst mich durchs Leben“ (Ps 73,23).
Die Einladung in die älteste Niederlassung der Franziskaner-Minoriten im deutschsprachigen Raum, nämlich in Würzburg, vermehrte mit Deutsch nicht nur Deine Sprachkenntnisse, sondern gab Deinem priesterlichen Wirken eine neue Perspektive. So hast Du Dich entschlossen, die begonnene theologische Promotion nicht weiter zu verfolgen. Du bist der in Dir spürbaren Unruhe gefolgt und hast in der pastoralen Arbeit in der Gemeinde mitten unter den Menschen eine Aufgabe entdeckt, die Dich erfüllt und bei der Du spürst, dass Gott sie Dir zugedacht hat. Mit Deiner Arbeit im spirituellen Bereich hat Du geistige Grundlage für Deine pastorale Arbeit gelegt- Der Dienst am Menschen geht nicht ohne spirituelles Fundament!
Zahlreichen Menschen, denen Du – auch schon in Deinen früheren Aufgaben begegnet bist – haben es ähnlich empfunden wie das Ehepaar, von dem wir in der Lesung aus dem Alten Testament gehört haben: „Ich weiß, dass dieser Mann, der immer wieder bei uns vorbeikommt, ein heiliger Gottesmann ist.“ Elischa, von dem im zweiten Buch der Könige berichtet wird, hat in den Menschen das Vertrauen ins Leben bestärkt und so konnte er diesem betagten kinderlosen Ehepaar die Zusage geben: „Im nächsten Jahr um diese Zeit wirst du einen Sohn liebkosen.“
Dem Leben dienen, das Vertrauen ins Leben und insbesondere in Gott, der will, dass wir leben, bestärken, ist Dir zur Lebensaufgabe geworden. Nachdem Du über drei Jahre in der Rhön, am Fuße des Kreuzberges, Dich in den pastoralen Dienst eingeübt hast, war es für Dich eine Herausforderung hierher in den Spessart zu wechseln, gerade auch, weil die Pfarreiengemeinschaft mit Waldaschaff, Weibersbrunn und Rothenburg schon dreieinhalb Jahre vakant war.
Cornelia Müller, die den Artikel im Main-Echo verfasst hat, hat ein für mich sehr passendes Foto dazu abdrucken lassen: Pfarrer Augustin unter einem strahlende Himmel mitten im Garten. Wir dürfen es auch so deuten, wo Pfarrer Augustin ist, öffnet sich der Himmel und blüht das Leben auf. Da ist nichts mehr zu merken davon, dass Augustin als Kind und Jugendlicher selbst kein Ministrant war, weil er Lampenfieber hatte, wenn er in der Öffentlichkeit stehen sollte. Heute ist es umgekehrt. Er bekommt Fieber, wenn er zuhause bleiben soll und nicht unter die Menschen darf. „Mein Hobby ist die Seelsorge!“, sagt er.
Weil ihm das Leben der Menschen und die Zukunft unserer Welt am Herzen liegt, benennt er als einen Schwerpunkt seines Wirkens die Sorge um Kinder und junge Familien. „Hier wird das Fundament fürs Leben und für die Zukunft unserer Welt gelegt!“ Daran mitzuwirken, ist eine der unverzichtbaren Aufgaben der Kirche, und zwar nicht in den Sphären bischöflicher Ordinariate, sondern im Lebensraum – oder neudeutsch ausgedrückt – im Sozialraum.
Wenn wir z.B. jetzt an die Unruhen und die sich immer stärker entladende Gewalt denken, die sich derzeit in Frankreich abspielt, und die uns immer wieder auch in unserem Land vor Augen steht, dann erfüllt ein Kommentar, wie ich ihn gestern in der WELT gelesen habe, mit Sorge: „Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entkommen gibt.“
Meines Erachtens gibt es nur einen Ausweg, nämlich endlich über die geistigen und geistlichen Grundlagen unseres Lebens nachzudenken und hoffentlich einzusehen, dass es sich auf lange Sicht verheerend auswirkt, wenn wir Gott und seine Lebensbotschaft aus unserem Miteinander verbannen. Und das beginnt schon mit so scheinbaren Kleinigkeiten, die wir bereits im Kindergarten gelernt haben: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu!“, was ja von der „Goldenen Regel“ Jesu abgeleitet ist: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen …“
Gregor Gysi, lange Vorsitzender der Fraktion der Linken, sagte in einer Livesendung im BR-Fernsehen: „Ich selbst glaube nicht an Gott, aber ich fürchtet eine Gesellschaft ohne Religion!“ Und er fügte hinzu: „Wenn wir nicht die Bergpredigt hätten, hätten wir überhaupt keine allgemeinverbindliche Moral.“
Dazu noch zwei Aussagen aus der WELT von diesem Samstag. Die Vorsitzende einer der noch großen Parteien in unserem Land wird zitiert: „Die Menschen sind hochgradig ermüdet und verunsichert.“ Dazu mein Kommentar: Das ist die Folge, wenn den Menschen alle Leitplanken und alle seit Generationen überkommenen Lebensgewohnheiten und Rituale im Jahreslauf genommen werden und insbesondere die gewachsene Familie als Rückhalt in Zweifel gezogen wird, dann nimmt die Versicherung zu.
Schließlich fordert der Bundeskanzler Scholz „Respekt und Zusammenhalt“ in der Gesellschaft. Voraussetzung dafür allerdings sind das Menschenbild, ich sage sogar: das christliche Menschenbild, und die Bereitschaft zur Solidarität.
Wie wir also mit dem Leben – vor und nach der Geburt bis hin zu seiner Gebrechlichkeit und dem Sterben – umgehen, hängt von unserem Maßstab ab, mit dem wir Leben sehen, verstehen und bewerten. Wer sich auf Jesus einlässt, sieht nicht nur sich, sondern auch den anderen, sieht den in Not geratenen Menschen anders, und er wird auch mit dem Leben anders umgehen. Im Blick auf Jesus lässt sich vieles bewegen und wird das Leben menschlicher und lebenswerter werden. Wer sich auf seinen Weg einlässt, der wird das Leben gewinnen!
Das, lieber Pfarrer Augustin, hast Du Dir zur Lebensaufgabe gemacht, den Blick der Menschen auf Jesus und seine Frohe Botschaft hinzulenken. Weil das für Dich kein Job, kein pastorales Handwerk, keine Theorie ist, sondern Deiner Überzeugung entspricht, deswegen sind die Menschen beeindruckt – so wie wir als Kinder damals im Blick auf den Bischof aus einer für uns anderen Welt. Allerdings gibt es doch einen Unterschied: Dir fehlen noch Stab und Mitra! Aber auch ohne bist Du für die Dir anvertrauten Menschen ein guter Hirte!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Ja, den anderen mal so richtig
Zeigen, wer der Bos ist!
Aber der Dumme sein, der ihnen den Dreck wegmacht?
Ja, den andern mal so richtig
begreiflich machen, was ein Hammer ist!
Aber der sein, auf den man einschlägt?
Ja, den andern mal so richtig
klarmachen, wer an allem schuld ist!
Aber ohne schuld zu sein die Schuld auf sich nehmen?
Ja, den andern mal so richtig
die Wahrheit sagen!
Aber selber Wahrheit sein?
Ja, den andern mal so richtig
den Kopf waschen!
Aber die Füße?
(Autor unbekannt)